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„Bolschewismus aufgeben“
FURCHE: Herr Staatsminister, am Samstag beginnt der Schicksalsparteitag für die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (USAP). Werden die Reformer imstande sein, die Partei zu erneuern?
IMRE POZSGAY: Die Chancen der Reformkräfte stehen gut. Entscheidend ist, daß die wahre Alternative, das für jeden annehmbare Parteiprogramm, von den Reformern ausgearbeitet worden ist. Die Versuche der Orthodoxen sind sehr schwach. Die Plattformen der Konservativen finden kaum Widerhall.
FURCHE: Die Konservativen haben aber zahlreiche Anhänger - in Wirtschaft und Verwaltung. Die zittern um ihre Positionen. Und die Reformgegner haben ihnen bereits gewisse Zusagen gemacht. Von diesen Leuten hängt aber auch das Schicksal der Reformen ab.
POZSGAY: In der Tat. Wir müssen die Natur der Krise sehen, die in Ungarn die ganze Gesellschaft, die politischen Verhältnisse und die menschlichen Beziehungen erfaßt hat. Die Gesellschaft ist in eine Sackgasse geraten, ist funktionsunfähig geworden. Wer heute noch von Restauration oder Konservierung spricht, macht auch jene Menschen zu Verlierern, die er mit dem Versprechen der Beibehaltung ihrer
Macht ködert. Wenn diese Leute die Chance des friedlichen Überganges akzeptierten, so hätten sie gewiß noch zahlreiche Möglichkeiten, als Staatsbürger im Geiste ihrer Berufung zu handeln. So wie sie jetzt handeln, tragen sie jedoch unweigerlich zu einer Katastrophe bei, für die sie dann auch die Verantwortung übernehmen müssen.
FURCHE: Auf dem Parteitag wird also jemand gehen müssen - die Reformer oder die Konservativen?
POZSGAY: Zunächst muß einmal eine Abrechnung vollzogen werden. Es geht auch um die Vergangenheit. Dazu gehören die Dogmen von Theorie und Praxis der Diktatur des Proletariats, der führenden Rolle der Partei, der Verschmelzung von Partei und Staat. Auch die für allmächtig und allwissend erklärte
Denkweise muß aufgegeben werden, wonach zur Herrschaft keine andere Legitimation als die Theorie notwendig sei, wie man dem Volk zu seinem Glück verhelfen könne. Verworfen werden müssen die bolschewistischen Organisationsformen wie der demokratische Zentralismus, der nichts anderes als eine bürokratische Zentralisierung hervorgebracht hat.
FURCHE: Werden Sie eine Sozialistische Partei Ungarns gründen, wenn die Erneuerung auf dem Parteikongreß scheitern sollte? Werden da viele Reformgenossen mitgehen?
POZSGAY: Ich kann mir vorstellen, daß die Zahl jener Delegierten, die ähnlich denken, sehr hoch sein wird. Ich bin optimistisch und glaube, daß die Reformplattform auf dem Parteitag ohne Abspaltung den
Sieg davontragen wird.
FURCHE: Wenn es aber nicht klappt, wer scheidet dann aus den Apparaten aus - aus dem Parlament, der Regierung - die Konservativen oder die Reformer?
POZSGAY: Es ist me,in Wunsch, daß sich auch die Konservativen in diesem Land frei entfalten können. Nur müssen sie Farbe bekennen, wonach sie streben. Ich respektiere ihre Meinung und erkenne an, daß sie ehrlich daran glauben, recht zu haben. Nur darf man nicht übersehen, daß in ihrem Lager jene Personen stehen, die die Schuld für die versäumten Möglichkeiten, fürs falsche Regieren des Landes tragen. Viele haben sich auch inhumaner Taten schuldig gemacht. Sie will ich absondern. Zugleich muß aber auch die Frage nach der politischen Verantwortung gestellt werden. Sie darf aber keinesfalls zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen. Sollte nämlich die Abrechnung wieder einmal in der gewohnten Weise -wie beispielsweise nach 1956 - stattfinden, dann nimmt der Bürgerkrieg in unserem Lande kein Ende mehr. Ich hoffe auf eine zivilisierte europäische Lösung.
Mit Staatsminister Imre Pozsgay, Präsidentschaftskandidat und eines der vier Mitglieder des Präsidiums der USAP, sprach Gabor Kiszely.
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