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Die Wende nach Schönberg

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Ein passendes Symbol der Neuen Musik scheint mir der Kreis zu sein. Es kommt nicht mehr darauf an, daß sich in jeder Phase etwas Neues ereignet, denn alles Neue ist irgendwann schon einmal dagewesen. Erfahrbar gemacht wird die Zeit, und zwar im Erlebnisraum des Bewußtseins, das auf seine eigene Realität pocht, das sich gegen die Absolutsetzung physikalischer Abläufe stemmt. Die Tage „Pro musica nova“, veranstaltet von Radio Bremen, und die Wittener Tage für neue Kammermusik, für die neben der Stadt Witten auch der Westdeutsche Rundfunk verantwortlich zeichnet, sind von der Konzeption her kaum auf einen Nenner zu bringen. Gemeinsam waren beiden Musikfesten nur die unbegrenzten Möglichkeiten musikalischer Sprache.

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Ein passendes Symbol der Neuen Musik scheint mir der Kreis zu sein. Es kommt nicht mehr darauf an, daß sich in jeder Phase etwas Neues ereignet, denn alles Neue ist irgendwann schon einmal dagewesen. Erfahrbar gemacht wird die Zeit, und zwar im Erlebnisraum des Bewußtseins, das auf seine eigene Realität pocht, das sich gegen die Absolutsetzung physikalischer Abläufe stemmt. Die Tage „Pro musica nova“, veranstaltet von Radio Bremen, und die Wittener Tage für neue Kammermusik, für die neben der Stadt Witten auch der Westdeutsche Rundfunk verantwortlich zeichnet, sind von der Konzeption her kaum auf einen Nenner zu bringen. Gemeinsam waren beiden Musikfesten nur die unbegrenzten Möglichkeiten musikalischer Sprache.

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Vor zwanzig Jahren herrschte die große Skepsis: nichts „ging“ mehr, nichts schien glaubhaft zu sein; „Wahrheit“ hatte letzten Endes nur die Stille zwischen zwei Tönen — oder die vieldeutige Chiffre, auf die purste Essenz gebracht, ein Zeichen für sich selbst. Heute ist alles möglich: die Musiker setzen sich selber, ihr Tun, ihre Träume, ihr Kalkül, ihren jeweiligen Erfahrungsstand als Zeichen. Sie geben Psychogram-me ihrer schwierigen Befindlichkeit. Sie blicken nach innen und gen Osten. Sie entfalten ihre privaten Mythologien. Kontemplation ist an die Stelle des Ausdrucks getreten: das ist die eigentliche Wende in der Musik nach Schönberg.

In Bremen: Terry Riley im Lotos-sitz an der elektronischen Orgel; sanftes periodisches Kreisen in kleinen Intervallräumen mit einem bordunartigen Baßklang als Untergrund, mit zeitverzögerter Zuspielung des Live-Klanges zur „grenzenlosen“ Polyphonie vervielfacht und im Raum ausgebreitet. Als Echo erscheint das gleiche, aber es ist doch

ein anderes. Oder: La Monte Young bedient in einem lichtgesteuerten Environment von Marian Zazeela drei Stunden lang sein „Well-Tuned-Piano“,. das „Wohltemperierte Klavier“ seiner eigenen Erfindung, improvisiert auf der Basis eines präzis kalkulierten Planes von Frequenzproportionen, „Feeling“ und Ratio sind aufgerufen, eines durch das andere. Nach zwei Stunden verwandelt sich der Klang selbständig im Ohr des Hörers, er vernimmt Echowirkungen und Resonanzen, die akustisch nicht registrierbar sind.

In Witten: das Sextett des „Colle-gium vocale Köln“ sitzt im Kreis; ... „ora“ ..., „ein Herzstück für sechs Vokalsolisten“ von dem gebürtigen Schweizer und jetzigen Brasilianer Ernst Widmer, beginnt unhörbar mit der Silbe „om“, mit dem Öffnen und Schließen des Mundes, „einen Atem lang“. Aus „om“ wird „omen“, aus „omen“ schließlich „ora“, in vielfacher textlicher und musikalischer Einfassung; „ora pro nobis“, was gehört werden soll — in künftiger, von Klängen durchzoge-

ner Zeit —, ist die Stimme des Komponisten, ist die Musik als Utopie, denn die musici (heißt es bei Widmer) „bleiben bestehn“. „Gelassenheit“ vertraute Walter Zimmermann einer Altstimme, zwei Gitarren und dem Harmonium an — mit einem Text von Meister Eckhart, auf den ihn John Cage gebracht habe; Klang wie aus alten Zeiten, fern und vertraut, dringt ans Ohr.

Das Motto der Bremer Tage bezeichnet das Klima der Neuen Musik: „Es ist wie in der alten Zen-Geschichte: alles ist noch immer wie es war, aber alles ist anders.“ Flucht ins Immergleiche, Resignation, Verzicht auf den Ansatz zur „Veränderung“? Vielleicht auch der Wunsch (von Veranstaltern, Komponisten und Interpreten), daß besser und genauer gehört werde — vielleicht ein Hinweis auf die sich verändernden „Antennen“. Sie richtig einzustellen, „Selbstverständliches“ wie zeitliche Abläufe und kulturelle Ereignisse neu ins Bewußtsein zu bringen: auch dazu fordern die Komponisten heute auf. Damit ihre Aufforderung gehört werde, muß freilich — an Vermittlung und Rezeptionshilfe — mehr und anderes geschehen, als auf herkömmlichen Musikfesten geleistet wird. In Bremen gab man mit optischen, theatralischen und didaktischen Reizen wenigstens Anstöße.

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