7009214-1988_01_03.jpg
Digital In Arbeit

Hofnarren des Systems

Werbung
Werbung
Werbung

Die neulich zu Ende gegangene Wintersitzung des ungarischen Parlaments enttäuscht zweifellos jene Hoffnungen, die in Richtung einer intensiveren Verwirklichung der politischen Reformen gingen. Selbst Ministerpräsident Käroly Gr6sz betonte in seiner Regierungserklärung, daß „die objektiven Gegebenheiten des Landes nur langsam, mit geduldiger und behutsamer Arbeit verändert werden können“.

Der Erleichterung dieser Arbeit sollen die—von einem großen Teil der Bevölkerung als „reines

Schachspiel“ bezeichneten Um-besetzungen in der Regierung dienen, in der jetzt endlich jüngere Reformanhänger die Mehrheit bilden.

Einem Beschluß zufolge werden die Minister künftig von der Bevormundung der Koordinationsapparate der Partei weitgehend befreit und unmittelbar der Kontrolle des Parlaments unterstellt.

Die Rolle des Parlaments soll auch dadurch aufgewertet werden, daß das Staatspräsidium künftig das Recht verliert, anstelle des bisher jährlich nur viermal für einige Tage zusammentretenden „Landtages“ Gesetze zu verabschieden beziehungsweise Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen.

Vorbereitet wird nun auch das vom Generalsekretär der Patriotischen Volksfront, Imre Pozsgay, neulich von der Öffentlichkeit energisch geforderte Vereinsgesetz zur Legalisierung der Opposition - „zur Artikulierung der Interessenpluralität der Gesellschaft“, wie es offiziell heißt.

An diesem Problem werden sich allerdings noch einige Zeit die Geister scheiden. Die Parteiführung ist zwar grundsätzlich dazu bereit, auf dem Wege gewisser Machtkorrekturen die Partizipation breiterer Bevölkerungsschichten an Entscheidungspro-zessen zuzulassen. Sie lehnt aber nach wie vor die Institutionalisierung jener Strömungen ab, die nach Premier Grösz „von einer feindlichen Plattform ausgehen“.

Gemeint ist damit die sogenannte „harte Opposition“, für deren radikalen Teil neuerdings jene Gemäßigten die Gegner Nummer eins sind, die „den Kompromiß mit der Macht nur deshalb suchen, um künftig als anerkannte Hofnarren des Systems in der Rolle einer Scheinopposition glänzen zu können“.

Dem „System“ wird allerdings die Legalisierung auch der Gemäßigten — darunter zahlreiche Bürgerrechtler - noch lange Kopfzerbrechen bereiten. Verstärkt hat sich bereits die Aktivität jener Dogmatiker in der Partei, die ihre bedingungslose Linientreue (gegenüber dem Reformkurs) zwar beständig beteuern, zugleich jedoch auf der mittleren und unteren Ebene des Apparates ihre Macht und Befugnisse hemmungslos zum Blockieren der Reformvorgänge ausnutzen.

Die Reformer müssen aber noch mit anderen Schwierigkeiten rechnen: es geht dabei um das fehlende Demokratieverständnis der Bürger, die nach fast 40 Jahren in einem Einparteienstaat ein recht eindeutiges Verhältnis zu den Institutionen haben. Ausgeliefert den tagtäglichen Erfahrungen mit einer seelenlosen Bürokratie, bedienen sie sich bei der Durchsetzung ihrer Interessen der List und Korruption.

Aus der Reformfeindlichkeit gewisser Parteikreise und der Reformpassivität der Gesellschaft darf jedoch nicht notwendigerweise das Scheitern des soeben erst begonnenen Experiments gefolgert werden. Man darf nicht übersehen, daß die Partei sowohl die konservativen und parasitären, aber auch die aktiven Kräfte der Gesellschaft integriert.

In der Partei gibt es eine große

Anzahl von Menschen, die auf verschiedenen Ebenen gesellschaftlich nützliche und unerläßliche Funktionen wahrnehmen und dabei mit Problemen kämpfen, die in beträchtlichem Maß durch die Parteipolitik hervorgerufen werden. Diese Kräfte haben die Chance, die Verwirklichung der Reformpolitik nach unten zu fördern. Die Reformfront bewegt sich nicht zwischen Partei und großen Teilen der Gesellschaft, sondern geht quer durch die ganze Gesellschaft, die Partei mit eingeschlossen.'

Indes richtet sich die Aufmerksamkeit der ungarischen Öffentlichkeit auf die Krise im Reich Ni-colae Ceausescus. Das Schicksal der ungarischen Minderheit in Siebenbürgen gibt Anlaß zu großer Sorge.

Die Ablösung von Parteichef . Gustav Husak in der Tschechoslowakei, der viel zu lange seine Pflicht getan hat, wirft auch in Budapest die Frage nach der Nachfolge Jänos Kädärs auf. Jedoch nicht mehr mit der gleichen Intensität wie in den Vorjahren. Denn darüber, daß die Nach-Kädär-Ära bereits begonnen hat, herrscht seit der Herbstsitzung des Parlaments (FURCHE 49/ 1987) weitgehend Einigkeit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung