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Lange Schatten vor dem 10. Oktober

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Noch brennt die Urlaubssonne auf die Köpfe der Politiker. Aber dennoch stehen sie schon im Schatten, den der 10. Oktober vorauswirft. Die SPÖ tritt in diesem Wahlkampf zuversichtlich an. Was sie will, ist offenbar klar: eine Stärkung gegenüber dem 1. März 1970, um allein oder mit der FPÖ vier Jahre lang gesellschaftspolitische Vorstellungen endlich realisieren zu können.

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Noch brennt die Urlaubssonne auf die Köpfe der Politiker. Aber dennoch stehen sie schon im Schatten, den der 10. Oktober vorauswirft. Die SPÖ tritt in diesem Wahlkampf zuversichtlich an. Was sie will, ist offenbar klar: eine Stärkung gegenüber dem 1. März 1970, um allein oder mit der FPÖ vier Jahre lang gesellschaftspolitische Vorstellungen endlich realisieren zu können.

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Und die ÖVP?

Sie kämpft mit dem Rücken zur Wand (sprich: Vergangenheit) nur ein Vierteljahr nach einer fast totalen Auswechslung der Führungsspitze um die Chance, nicht ganz aus dem Spiel der Macht ausgeschieden zu werden und nicht in die Mühle eines Zerreißprozesses zu geraten, der jeder so bunt strukturierten Partei droht, wenn sie vier Jahre lang auch ihre Bünde und Interessentengruppen von der Macht ausgeschlossen weiß.

Was aber bietet die Volkspartei in der Opposition einer durch allerlei Wahlprogramme in den letzten Jahren gefütterten Öffentlichkeit?

Noch ist das Wahlprogramm nicht veröffentlicht. Was daraus bekannt wurde, verdient allerdings Aufmerksamkeit.

Zuerst: Der Vergleich mit 1966 und

1970 drängt sich auf. Damals, als Regierungspartei, ging es um die Ausgewogenheit zwischen Möglichem und Wünschenswertem, zwischen Soll und Haben. Heute fallen solche Rücksichten weitgehend weg. Welche Chance bietet sich da also, gleichfalls gesellschaftspolitische Ordnungsvorstellungen vorzutragen?

Traut man den Auguren, zeichnet sich tatsächlich so etwas wie eine Neuprofilierung ab. Da offeriert die Volkspartei Vorstellungen wie

„Chancengleichheit“, sowohl in bezug auf die Beseitigung geschlechtlicher und geographischer Diskriminierungen wie auch in bezug auf soziale Diskriminierung; da stehen familienpolitische Initiativen zur Debatte. Und daß die Nachkriegsphasen mit Wiederaufbau und Wirtschaftskonsolidierung vorbei sind, dürfte spürbar geworden sein: jetzt gilt es, gesundheitpolitische, umwelterhaltende, ja ästhetische Schwerpunkte zu setzen

— was ja wiederum weitgehend konservative Vorstellungen sind.

Auch wer mit Skepsis der Öffnungstaktik der Volkspartei gegen übergestanden ist, muß zugeben, daß offensichtlich ein neuer Geist weht:

• Die Chancengleichheit soll vor allem für die Frau erkämpft werden; zwar liest man nichts über die „Pillendiskussion“, die die Spitzenkandidatin Hubinek so pointiert gestartet hat. Dafür aber einiges von der Teilzeitbeschäftigung, der Pensionsgleichstellung der Hausfrau mit der berufstätigen Frau. Chancengleichheit aber offenbar auch in Richtung auf eine Verbesserung der Bildungschancen für die Bewohner im ländlichen Raum; Aufstiegschancen der Arbeitnehmer durch Berufsfortbildung; Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand (siehe dazu auch Seite 4); Milderung des noch immer bestehenden Bildungsprivilegs.

• Die Familienorientierung zielt auf eine Hilfe vor allem für die junge Familie: Kindergartenplätze, Haushaltsgründungsdarlehen.

• Eine Neuorientierung der Volkspartei auch in der Sozialpolitik? Offensichtlich darf man die Forderung nach der Abschaffung der 3. Klasse in den Spitälern dazu rechnen. Ebenso die Angleichung der Sozialversicherung der Selbständigen und Bauern an die der Arbeitnehmer.

• Gesundheitspolitik und „schönere Umwelt“: Da hört man von Gesun- denuntersuchungen, Einrichtungen eines ärztlichen Alarmdienstes, Beseitigung der Gefahrenstellen auf den österreichischen Straßen, Verabschiedung einer Konvention „zum Schutz der Umwelt“, Erhöhung der Wohnungsdurchschnittsgröße und einer sinnvollen Stadterhaltung.

Nun, freilich: Die Vorschläge sehen sich auf dem Papier erfreulich an. Und nichts liest man in der ÖVP von den konkreten Möglichkeiten, wie man jeweils welche Probleme selbst in den eigenen Reihen realisieren kann. Oder wird die Vermögensbildung, so vage der Begriff nämlich auch ist, nicht die Inter essen der Privatwirtschaft tangieren? Oder aber die Gleichstellung der Frau im Berufsleben. Die Diskriminierung ist ja heute in der betrieblichen Kalkulation eingeplant.

So liest sich manches als Ruf nach neuer Staatsintervention; nach noch mehr Belastungen und Übertragungen von Aufgaben für das Budget.

Viele dieser Vorschläge kosten Geld. Über die Aufbringung dieser Mittel macht man sich wenig Gedanken. Oder soll die Sparsamkeit der Verwaltung ein Allheilmittel gegen die Budgetauslaugung sein?

Viele Programmpunkte, sofern man sie schon kennt, kosten wiederum kaum etwas: etwa die Erhaltung der Grünflächen, die Lärmbekämpfung durch verschärfte Kontrollen, die Transportmöglichkeit für Kinderwagen in öffentlichen Verkehrsmitteln, die Berücksichtigung künstlerischer Gesichtspunkte bei der Realisierung öffentlicher Bauvorhaben, die Schaffung von Fußgeherzonen.

Freilich: In Wahlprogrammen steht vieles. Oft zu vieles. Aber was offensichtlich neu an der Volkspartei ist, scheint in der Betrachtungsweise der Probleme zu liegen: nämlich quasi von unten her, von dort, wo sie auch der einfache Bürger sieht. Und das ist bei einer konservativen Honoratiorenpartei, noch dazu mit hündischem Drang zum Interessensgerangel, nach 25 Jahren Anteil an der Macht wert, registriert zu werden.

Und es geht bei dieser Registrierung eines Phänomens nicht um Details. Natürlich raschelt das Papier, wenn Parteien Wahlprogramme erstellen. Und der ÖVP wird die Frage der Wähler nicht erspart bleiben, ‘ warum sie nicht schon früher alle diese schönen Blumen zu einem Strauß für die Bürger geflochten hat. Dennoch scheint es sich abzuzeichnen, daß die karge Opposition doch noch ein Gesundbad werden könnte — zumindest im Hinblick auf eine Besinnung auf das, was eine christlich-demokratische Partei im letzten Drittel dieses Jahrhunderts den Menschen zwischen der Angst vor den Krisen und der Erstickung im Zivilisationsmüll noch anbieten kann.

Man ist sich nun auch in der Kärtnerstraße damit ins reine gekommen, daß von einer Öffnung nach „rechts“ nichts zu erwarten ist. Die Chance der Volkspartei kann nur dort liegen, wo die Massen der Österreicher leben: in einer Welt der Arbeit in Büros und Werkstätten.

Und bei der Durchsicht der Vorstellungen, die die ÖVP offenbar der Öffentlichkeit bis zum 10. Oktober präsentieren will, kommt ein harter Kern zutage: ein harter Kern, der Chancengleichheit, Vorstellungen von der Wiedervereinigung von Kapital und Arbeit, von einer subsidiären Lebensordnung der Familie schon vor gut 70 Jahren erstmals enthalten hat.

Ein harter Kern, der verschüttet war. Wird er doch wieder, freilich entstaubt und ins Heute hereingetragen, stärker zum Zentrum der Volkspartei?

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