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„Nase“ im Anmarsch

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Sie hegt auf Platten seit vorigem Jahr vor, bekam auch schon den verdienten Plattenpreis, aber so richtig aktuell wird sie nun im Zeichen des bevorstehenden Gastspiels der Moskauer Kammeroper beim Carinthi-schen Sommer. „Die Nase“ von Di-mitri Schostakowitsch, dieses 1930 in Moskau uraufgeführte und dann für fast ein halbes Jahrhundert in der Versenkung verschwundene Werk nach der Erzählung („Nos“) von Gogol.

Die mit Werkgeschichte und Textbuch der Universal-Edition in einer 2-LP-Kassette vorgelegte Aufnahme entstand 1975 in der Moskauer Kammeroper. Das erleichtert die Vorbereitung auf das Gastspiel und steigert das Interesse, denn offensichtlich haben Solisten, Chor, vor allem aber das Orchester nahtlosen Anschluß an die kurze, lebendige Entwicklung moderner sowjetischer Musik vor den stalinistischen Zwangsmaßnahmen gefunden. Sowjetische Interpreten eines Werkes der klassischen Moderne brauchen demnach keinen Vergleich zu scheuen - wenn man sie läßt!

Schostakowitsch hat die Inszenierung (1974) noch erlebt und an der Regiearbeit von Boris Pokrowskij lebhaft Anteil genommen. Auch diese „Nase“ macht wieder einmal so richtig bewußt, welche vielversprechenden, ja großartigen Ansätze abgewürgt wurden, als die stalinistische Administration Schostakowitsch auf jenes Maß herunterstutzte, das sie zu kapieren in der Lage und zu dulden bereit war. Aber das gilt ja genauso für Malerei und Literatur. Wobei freilich „Die Nase“ auch wiederum Zeugnis davon ablegt, wie eng (ungeachtet des stellenweise sehr stark heraushörbaren „typisch Russischen“) die Verbindung zwischen der sowjetischen und der westeuropäischen Moderne in den zwanziger Jahren war. „Die Nase“ ist eine expressionistische Oper, die an keiner Stelle verleugnen kann, daß der damals nur 22 Jahre alte Komponist genau wußte, welche Entwicklungen anderswo im Gange waren und daß er sich diesen Strömungen tiefer verpflichtet fühlte als jeder wie immer gearteten Tradition. Zugleich verrät dieses Werk bereits so viel eigene Handschrift, dabei einen solchen Einfallsreichtum und so viel künstlerische Intelligenz, und, obwohl hier eine (angeblich) heitere Geschichte mit ernsten musikalischen Mitteln erzählt wird, auch so viel Witz, daß man weinen könnte, denkt man daran, welches Lebenswerk Schostakowitsch vielleicht hätte schaffen können - hätte er dürfen. (Übrigens - wo'immer man Opern aufführt, wäre „Die Nase“ repertoirewürdig!)

Freilich - Stalin wußte wahrscheinlich sehr genau, warum ihm „die ganze Richtung nicht paßte“. „Die Nase“ ist so wenig eine proletarische Oper wie Kandinskij proletarisch malte oder Majakowslrij; trotz aller revolutionären Uberzeugung, in einem proletarischen Stil schrieb. Sie alle setzten vor der Revolution begonnene Entwicklungen fort, erhofften sich von ihr freilich jene Freiheit, die vor der Revolution kaum und nach Stalins Machtantritt überhaupt nicht mehr existierte (wobei der Hauptunterschied nicht im Ausmaß der Freiheit, sondern in der tödlichen Schärfe der stalinistischen Sanktionen besteht).

Auch ist die Handlung der „Nase“ voll boshafter Anspielungen auf Hierarchien (köstlich die Hilflosigkeit des Kollegienassessors Kowaljoff bei der Begegnung mit der eigenen, ihm entsprungenen, nun aber in ranghöherer Unform auftretenden Nase!) und spießiges Nützlichkeitsdenken; der Komponist schrieb den Text nach Gogol selbst!

DIMITRI SCHOSTAKOWITSCH: DIE NASE. Dirigent: Gennadij Rosch-destwenskij. Solisten, Chor und Orchester der Moskauer Kammeroper. Melo-dia Eurodisc 89 502; 2LPs. *

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