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Das Lied des Sieges

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Die politische Spannung in Polen wird zur schöpferischen Quelle für das musikalische Schaffen im Land. Inmitten der existenziellen Sorgen eines Volkes ereignen sich kulturelle Höhepunkte.

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Die politische Spannung in Polen wird zur schöpferischen Quelle für das musikalische Schaffen im Land. Inmitten der existenziellen Sorgen eines Volkes ereignen sich kulturelle Höhepunkte.

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Polen ist zur Zeit das Land der real machbaren Wunder. Es fehlt an nahezu allem, was wichtig ist für das tägliche Leben, aber die Menschen leben, und sie wirken nicht unglücklich. Der Zloty verliert zusehends an Wert, und wenn man den heutigen Dollarkurs des Schwarzen Marktes zugrunde legt — der schon fast ein weißer ist, weil man als Fremder auf Schritt und Tritt damit konfrontiert wird —, verdient der polnische Durchschnitts-Intellektuelle 20 Dollar im Monat. So muß man rechnen, und so darf man wiederum nicht rechnen, denn es würde bedeuten, daß man beispielsweise alle Konzerte des „Warschauer Herbstes“ praktisch zum Nulltarif besuchen könnte.

Ein Musikfest feiern, ein Jubiläum begehen in diesem Land, in diesem Polen? Es gibt scheinbar nichts, das widersprüchlicher wäre. Doch Polen ist zur Zeit das Land der Widersprüche, und alles, was dort geschieht, trägt entweder den Stempel des nackten Uberlebenwollens oder den des fast übermenschlichen „Trotzdem“, des „Nun gerade“. Das erklärt noch nicht das Phänomen des „Warschauer Herbstes“, der kein Festival Neuer Musik ist wie andere auch.

Der „Warschauer Herbst“ wurde vor 25 Jahren geboren aus Informationshunger und ästhetischem Freiheitsbedürfnis. Heute ist er — dank seiner geographischen und kulturpolitischen Entfernung vom westlichen Musikbetrieb — auch eine Art Rückspiegel gegenwärtigen Musikgeschehens.

Bei drei bis fünf Konzerten pro Tag im offiziellen und Rahmen- Programm sind gelegentliche Überschneidungen unvermeidlich. Nur ganz wenige Besucher hörten Roman Haubenstock-Ra- matis „Multiple I“ für ein Holz- blas- und ein Blechblas-Instru- ment, in der uraufgeführten Version für Alt-Saxophon und Tuba.

„Multiples“ sind Kunstwerke, die den industriellen Vorgang der

Serienfertigung abbilden. Das heißt in diesem Falle: Das Stück des in Krakau geborenen Komponisten, der überwiegend in Wien lebt, kann unter Wahrung bestimmter, kompositorisch fixierter Voraussetzungen in verschiedenen Besetzungen aufgeführt werden; es wird immer das gleiche Stück sein und doch ein anderes.

Der Komponist, sagt Hauben- stock-Ramati, muß „die Form denken“, und musikalische Form definiert sich für ihn in zeitlich-

räumlicher Ausdehnung. Sie ist etwas Festes und zugleich Bewegliches, sie muß wiederholbar sein als Form und die Anwendung neuen Materials zulassen, sonst ist sie eben nicht zu Ende gedacht, nicht konzipiert im Sinne eines musikalischen Geschehens. Mir scheint, daß es ein noch ungenutztes Potential aus der Musik der sechziger Jahre gibt.

1. Der heute 52jährige polnische Komponist und Musikschriftsteller Boguslaw Schaeffer hatte die wesentlichen Kapitel seines Buches „Nowa Muzyka“ bereits geschrieben, als der „Warschauer Herbst“ gegründet wurde; noch niemand in Polen hatte zu jenem Zeitpunkt eine Klangvorstellung

von der Musik, um die es in dem Buch größtenteils ging.

Eine Art Komponisten-Porträt von Boguslaw Schaeffer vereinte nun drei Stücke, geschrieben zwischen 1966 und 1980, und darin spiegelte sich eine unbändige, etwas kauzige Phantasie, die nicht nur mühelos die Grenzen zwischen Jazz und sogenannter Ernster Musik, zwischen Notiertem und Improvisiertem überspringt, sondern auch szenische Elemente als musikalisch einleuchtende erkennbar macht.

Ich begriff in dieser Nacht etwas von der so wenig verbissenen Intellektualität der Polen.

Weitläufigkeit kann zum Identitätsverlust führen. Mit Krzysz- tof Pendereckis „Te Deum“ von 1980 in der Kathedrale St. Johannes war der äußere Höhepunkt des Festivals erreicht; der gotische Dom in der wiedererrichteten Warschauer Altstadt war überfüllt.

Die Aufführung dauerte eine knappe Stunde; wesentlich länger hatten viele Menschen vor der Kirche gewartet, um einen guten Platz zu erlangen. In musikalischer Hinsicht ist von einer nach wie vor imponierenden melodischen Erfindung zu berichten — und einem nunmehr totalen Verfall der ästhetischen Verbindlichkeit. Das Werk, uraufgeführt am 27. September 1980 in Assisi während der „Sagra Musicale Umbra“, wurde durch die Papstwahl

inspiriert und ist Johannes Paul II. gewidmet. Als Zeichen der Identität von nationaler und religiöser Gebundenheit tönt pianissimo und „von fern“ ein Fragment des polnischen Dankes-Hymnus herein: „Boze cos Polske“ - „Herr, Du hast Polen beschützt“.

Penderecki ging einen allzu bequemen Weg, der das Miserere entwertet und jene Versöhnung, die im aufgewühlten Bewußtsein gegen Widerstände zu erstreiten wäre, billig prästabiliert. Seine „avantgardistischen“ Klangfindungen um 1960 geraten nachträglich in den Verdacht der puren Effektglasur, mithin der Unredlichkeit.

„Exodus“ das zweite Buch Mose» handelt vom Auszug der Kinder Israel aus Ägypten: Ist es ein Bild für Sieg oder Niederlage? Der polnische Komponist Woj- ciech Kilar schrieb „Exodus“ für Orchester und Chor, ein halbstündiges, scheinbar nach rückwärts gewandtes Werk.

Aus einer Intervall-Zelle ist ein slawisch-hebräisch tönendes Minimal-Thema entwickelt. Ravels „Bolero“-Modell, einmal von Schostakowitsch in seiner Siebten Sinfonie aufgegriffen, sonst kaum verwendet, gab für die Ver- laüfsform das Vorbild ab. Der Chor setzt mit einem gesungenen „Schrei“ ein; der Part wechselt zwischen Sprechchor und Hymnus, einzelne lateinische Wörter — Fragmente aus dem 15. Kapitel des „Exodus“-Buches — springen heraus. Kein apotheotischer Schluß; das Stück bricht ab, hinterläßt Irritation. Kilar hat das Motiv 1979 in West-Berlin von einem jüdischen Kantor gehört. „Ich dachte, daß aus dem hebräischen Thema ein Werk werden könnte, das die Versöhnung mit den Juden symbolisiert. Aber ich zögerte; erst im August 1980, als bei uns die Streiks begannen, wußte ich, daß ich die Musik schreiben mußte. Das Lied ertönt nach dem Durchschreiten des Roten Meeres. Es ist das Lied des Sieges.“

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