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Regierung van Agt hat Feuertaufe bestanden

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Nach 206 Tagen haben die Niederlande schließlich ein aus 16 Ministern und 16 politischen Staatssekretären (je zehn Christdemokraten und sechs Liberale) zusammengesetztes neues Kabinett erhalten, in dem ein Ministeramt und vier Staatssekretariate von Damen eingenommen werden. Zu einem derartig hohen Emanzipationsniveau hatte es selbst die letzte sozialistische Regierung nicht gebracht. Ihr gehörte lediglich eine Frau an.

In der von Ministerpräsident Dries van Agt abgegebenen Regierungserklärung heißt es denn auch glaubwürdig genug, das Kabinett werde eine zielbewußte Emanzipationspolitik führen, die Aktivitäten von Frauenorganisationen und anderen Gruppen fördern, diskriminierende Gesetze ändern und seine besondere Aufmerksamkeit auf die Studiumsund Berufsaufklärung richten.

Mit ähnlichen, nicht allzusehr auf Einzelheiten und Termine festgelegten Formulierungen hatte van Agt die Ziele und Wege seiner Regierungspolitik umrissen. Ausgehend von dem zwischen den Koalitionspartnern des christdemokratischen CDA und der liberalen WD geschlossenen Regierungsabkommen hatte der Premier in seinen Grundsatzausführungen in einer bisher in den Niederlanden ebenfalls ungewohnten Offenheit freimütig bekannt, das Kabinett sei sich bewußt, daß es nicht Aufgabe der Regierung sein könne und dürfe, in alle Mängel und Nöte der Gesellschaft einzugreifen. Die Behörden müßten sich vor einer übermäßigen Einmischung in das gesellschaftliche Leben hüten, weil die Regierung der Eigenverantwortung des Menschen einen hohen Wert beimesse. In der Gerechtigkeit gegenüber den Menschen, in der Schaffung von Entfaltungsmöglichkeiten für den einzelnen und in der Sorgfalt im Umgang mit der zur Verfügung stehenden Natur sehe die Regierung die Grundbedingungen zur Erfüllung ihrer Aufgabe.

Während der dreitägigen Aussprache mußte Hollands neue Regierung aufdringliche Fragen der Koalitionsparteien und heftige Angriffe der nunmehr in die Oppositionsbänke abgewiesenen Sozialisten hinnehmen. Dazu bot die - vielleicht zu Unrecht -als „vage“ bezeichnete Regierungserklärung genug Anlaß. Doch nachdem die Mehrheit alle Anträge der Opposition abgelehnt hatte, die Regierung zu Aussagen zu verleiten, die sie später bereuen müßte, schälte sich mehr und mehr heraus, daß die taktischen Fähigkeiten des neuen Ministerpräsidenten der Strategie des Vorgängers den Uyl überlegen waren. Die Regierung van Agt hat ihre Feuertaufe bestanden.

Die zweifellos schwierigen Probleme im sozialökonomischen Bereich, die Aufrechterhaltung des Wohlfahrts- und Versorgungsstaates, die dringend notwendig gewordene Regulierung der Staatsausgaben im Vergleich zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, das Anspornen der Innovationsfreudigkeit bei den schöpferischen Kräften sowie die Probleme der inneren und äußeren Sicherheit werden die neue Regierung vor harte Bewährungsproben stellen. Sie kann diese nur dann bestehen, wenn persönlicher Ehrgeiz, Parteiinteressen und menschlich verständliche Emotionen den Belangen des Gemeinwohls untergeordnet werden. Daß diese Chance der Regierung von der Opposition bereits erkannt worden ist, zeigt sich in ihrem Verhalten an der Grenze zwischen politischer Gegnerschaft und Feindschaft. Expremier den Uyl verzichtete auf den parlamentarischen Brauch, seinem Nachfolger nach der ersten Konfrontation die Hand zu schütteln. v

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