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Sittlichkeit nur Machtschleier?

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Mit prominenten Veranstaltungen erreichte das Europäische Forum Alpbach 1978 vergangenes Wochenende seinen Höhepunkt. Freitag nachmittag kam es zur Begegnung mit zwei der bedeutendsten Wissenschaftler unserer Zeit, Sir John Eccles und Sir Karl Popper, worauf die FURCHE nächste Woche zurückkommen wird. Der Samstag stand dann im Zeichen des „Politischen Gesprächs“. Den Schlußpunkt setzte dann UN-General- sekretär Kurt Waldheim mit seiner Rede über „Die Vereinten Nationen im internationalen Kräftespiel“.

Ralph Dahrendorf sprach provokant und wohl auch etwas mißverständlich vom „sozialdemokratischen Konsensus“. Er meinte damit, daß dieser Konsens heute in vielen europäischen Ländern von. rechten sozialdemokratischen Regierungen repräsentiert .werde und wesentliche Elemente rechten sozialdemokratischen Denkens darin Eingang gefunden hätten.

„Es ist sicherlich kein Zufall, daß rechte Sozialdemokraten die konsequentesten Konservativen in der Politik der Gegenwart sind“, sagte Dahrendorf. „Während sogenannte konservative Parteien nach grundsätzlichen Programmen suchen, nach einer neuen Sittlichkeit oder auch der radikalen Rückkehr zu den Werten von gestern, kommen rechte Sozialdemokraten nicht nur mit feinem Minimum an Programm, sondern sogar mit einem Minimum an Regierungaus: Sie lassen die vorherrschenden Annahmen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik unbestritten, kümmern sich im übrigen um law and Order und um die Verwaltung des Bestehenden.“

Vier für die rechte Sozialdemokratie typische Haltungen machten nach Dahrendorf den Grundbestand nicht nur des herrschenden Konsenses, sondern der Modernität überhaupt aus. Wirtschaftspolitisch hält man an der Notwendigkeit weiteren Wachstums durch die Steigerung der Produktivität fest. In der Gesellschaftspolitik steht das Motiv der Gleichheit, definiert durch die Gleichheit der Lebenschancen und nicht der Einkommen, im Vordergrund. Politisch hält man mit Überzeugung an den bestehenden demokratischen Institutionen fest, zumal sich diese als ein brauchbares Instrument der Veränderung erwiesen hätten. Im Bereich der Werte, der Kultur schließlich, befürwortet man Rationalität im Sinne Max Webers und des kritischen Rationalismus.

Prof. Dahrendorfs These lautet, daß es in der Tat Anzeichen bestimmter Legitimationsnöte gebe, wenn auch die Rede von einer „Legitimationskrise“ nicht berechtigt sei. Freilich müsse diese Aussage rasch durch ein „noch“ eingeschränkt werden, denn die Strukturen entwickelter Gesellschaften legten den Schluß nahe, daß diese Gesellschaften nahezu unweigerlich in eine solche Krise hineinschlittem.

Den herrschenden „sozialdemokratischen Konsens“ sieht Dahrendorf vor allem von drei wichtigen Gruppen in Frage gestellt: Von den „Tendenz- wendlern“, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen; von den Sy-

stemgegnem, die ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Hinblick auf die Zukunft die bestehenden Institutionen beseitigen möchten, und von den „Grünen“, die von einer ganz anderen Welt, einer anderen Qualität des Lebens träumten.

Dahrendorfs ebenso brillante wie originelle Standortbestimmung ließ nichtsdestoweniger einige wesentliche Fragen offen. So wird man bezweifeln dürfen, ob das liberale Konzept des „reduzierten Staates“ in der Lage sein wird, den großen Herausforderungen der Zukunft zu begegnen. Wie ö VP-Bundesparteiobmann J osef Taus betonte, habe man jahrzehntelang nach mehr Staat gerufen, um jetzt eben diesen Staat am liebsten wegzuwünschen, doch eben das sei heute nicht mehr möglich. Statt dessen forderte Taus mehr öffentliche Kontrolle im Sinne eines offensiven Demokratie- Verständnisses im Sinne verstärkter Mitwirkung des Bürgers an jenen Entscheidungen, die seinen unmittelbaren Lebensbereich betreffen.

Taus warnte vor Versprechungen eines Übermaßes staatlicher Leistungen, denn die dadurch provozierte Inflation der Erwartungen führe einerseits zu enttäuschten Hoffnungen, aber auch zu einer immer stärkeren finanziellen Belastung des einzelnen Bürgers. In einem solchen Klima gedeihe die allgemeine Staats- und Demokratieverdrossenheit, aus der dann sehr leicht eine Legitimationskrise des demokratischen Systems entstehen kann. In der Forderung nach einer neuen Sittlichkeit nur die „Verschleierung politischen Machtstrebens durch vages Reden vom Sinn des Lebens“ zu sehen, wie Dahrendorf es tat, sei nur möglich, wenn man davon überzeugt ist, die politische Ethik durch Soziologie ersetzen zu könhen.

Schließlich wird man aber auch gegen Dahrendorfs Behauptung, daß alle ideologisch-politischen Unterschiede in dem „sozialdemokratischen Konsens“ genannten Eintopf verschwunden oder doch irrelevant geworden seien, Bedenken und Zweifel anmelden müssen. Daß solche grundlegende Unterschiede sehr wohl bestehen, ging nicht zuletzt aus den Ausführungen von Prof. Shlomi Avineri von der Hebräischen Universität Jerusalem hervor. Er übte Kritik am atomistischen Individualismus der liberalen Doktrin, auf den sich politische Legitimität nicht begründen lasse. So weit, so gut. Was er aber dann als Grundaxiom einer politischen Anthropologie des Sozialismus definierte, mußte nicht nur bei eingefleischten Liberalen schwerwiegende Bedenken hervorrufen. Der Mensch sei bloßes „Bündel sozialer Beziehungen“.

Der Kölner Politologe Prof. Peter Graf Kielmannsegg fand insbesondere die Schlußfolgerungen, die sich aus Avineris Grundthese ergeben, „erschreckend“. Wenn der Mensch tatsächlich nichts als ein Bündel sozialer Beziehungen ist, dann sei er auch in allem und jedem ein Produkt der Gesellschaft, die über ihn die totale Verfügungsgewalt habe.

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