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Warum die Stadt den ländlichen Raum frißt

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Der Autor dieser Analyse ist Pfarrer in einer kleinen Landpfarre des oberen Mühlviertels. Sein Urteil erscheint hart,, überspitzt, wohl auch einseitig. Aber man muß das Thema sehr ernst nehmen. Wir laden unsere Leser zu kurzen, konkreten Stellungnahmen ein.

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Der Autor dieser Analyse ist Pfarrer in einer kleinen Landpfarre des oberen Mühlviertels. Sein Urteil erscheint hart,, überspitzt, wohl auch einseitig. Aber man muß das Thema sehr ernst nehmen. Wir laden unsere Leser zu kurzen, konkreten Stellungnahmen ein.

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War Österreich noch lange bis in die erste Hälfte unseres Jahrhunderts herein vorwiegend Agrarstaat und die Bevölkerung weit über den ländlichen Raum hin zerstreut, so hat sich das seither grundlegend geändert: Der Anteü der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung wird immer geringer, die Städte ziehen immer mehr Menschen an sich und führen zur Ballung mit ihren Problemen.

Die Stadt wird zum Moloch, der den ländlichen Raum immer mehr verzehrt.

So frißt die Stadt das Bauernland, das auf lange Frist und mit besonderer Bedeutung im Krisenfall die nahrungsmäßige Versorgung der Bevölkerung sicherstellen soll. Immer weiter wuchern die Städte ins flache Land hinein aus; die diversen Ver-bauungspläne sorgen lediglich dafür, daß dies gezielt und systematisch statt wie früher unkoordiniert und eher zufällig geschieht. Hunderte Hektar wertvollen Ackerlandes werden so Jahr für Jahr irreversibel zerstört; gar nicht zu reden von den

enormen Flächen, die jährlich zusätzlich dem Straßenbau zum Opfer fallen, der wiederum vor allem auf Grund städtischer Mobilität und städtischen Bedarfsniveaus (an Arbeitskräften, Gütern usw.) notwendig ist.

Die Stadt „frißt“ die Menschen des ländlichen Raumes. In ihr ballen sich politische, wirtschaftliche, finanzielle, meinungsbildende, verwaltende und juristische Macht. Mit allen diesen Agglomerationen ist ein hoher Bedarf an Menschen verbunden, den die Stadt aus eigenem nicht decken kann. Die Stadt saugt deshalb Menschen aus dem ländlichen Räum an, vorwiegend Menschen mit (relativ) höherer Bildung und höherer geistiger Mobüität. Sie schwächt damit das Entwicklungspotential des ländlichen Raumes.

Da der allgemeine Trend dahin geht, daß zusätzliche Arbeitsplätze relativ am meisten im Bereich der Dienstleistungen und im Verwaltungsbereich entstehen werden, speziell diese Arbeitsplätze auf Grund ihrer Basiserfordernisse aber in besonders hohem Maß in Siedlungen mit bestimmter Mindestagglomeration geschaffen werden, wird dies in Zukunft den Sog der Stadt eher verstärken als vermindern und weiter zur Auslaugung des ländlichen Raumes beitragen.

Dazu kommt, daß auch im ländlichen Raum die Geburtenrate rapid sinkt; Wanderungsverluste, die bisher durch den starken Geburtenzuwachs wettgemacht werden konnten, werden in Zukunft zu einem verstärkten Substanzverlust des ländlichen Raumes führen.

Das als Alternative häufig von gewissen Seiten forcierte Fernpendeln (auch als Tagespendeln mit täglichen Pendelzeiten bis zu vier und mehr

„Die Stadt ist der Moloch, der die Wirtschaftskraft des ländlichen Raumes frißt“

Stunden) ist aus medizinischen, ethischen, sozialen und anthropologischen Gründen abzulehnen. Überdies haben Untersuchungen bewiesen, daß Pendeln neben allen Schäden in den vorhin angezogenen Bereichen häufig zur Vorstufe der Abwanderung wird und ein signifikanter Zusammenhang zwischen Pendelwanderung und Abwanderung besteht.

Die Stadt ist der Moloch, der die Wirtschaftskraft des ländlichen Raumes frißt. Durch die günstigeren Einkaufmöglichkeiten im Supermarkt, das spezialisiertere und auf höherem Lohnniveau liegende Arbeitsplatzangebot in der Stadt, durch den Zusammenbruch diverser Einrichtungen des öffentlichen Dienstes in den kleineren Orten wird die Wirtschaftskraft des ländlichen Raumes enorm geschädigt. Der ländliche Raum darf zwar die hohen Ausbildungskosten für die jungen Menschen tragen (Kindergärten, Schulen, Einrichtungen der Jugendbetreuung), muß sie aber dann an die Stadt abgeben, ohne die Kosten in irgendeiner Weise von der Stadt ersetzt zu erhalten.

Erst im höheren Alter kehren die Menschen teils wieder in den ländlichen Raum zurück, wo der ländliche Raum erneut soziale Lasten tragen darf. Vorbild dieser Benachteiligung des ländlichen Raumes ist in eminenter Weise der Staat, der durch eine völlig ungerechtfertigte Verteilung der Ertragsanteile („abgestufter Bevölkerungsschlüssel“) den ländlichen Raum benachteiligt und ihm durch den Entzug seiner Finanzkraft wesentliche Entwicklungsmöglichkeiten vorenthält.

Kritisch wird dieser Entzug der Wirtschaftskraft für den ländlichen Raum dann, wenn das notwendige Agglomerationsminimum unter-

schritten wird und die Mindestversorgung gefährdet ist. Daß dies ein echter Verfall an Lebensqualität für die im ländlichen Raum verbleibende Bevölkerung ist, steht außer Zweifel.

Die Stadt ist der Moloch, der die gesunde Umwelt, die der ländliche Raum großteils noch bietet, mehr und mehr zerstört. Dies beginnt mit der harmlosen Form, daß die Städter zum Wochenende ihre Konservendosen und sonstigen Zivilisationsrückstände irgendwo in der ländlichen Umwelt, an Waldrändern und dergleichen, ungeniert zurücklassen. Dies geschieht in der viel perikulöse-ren Form, daß die städtische Umweltbelastung durch Emissionen auch den ländlichen Raum mitbelastet. Dies geschieht in der höchst bedenklichen Form, daß die hemmungslose Konsumgier des städtischen Menschen einen immer höheren Energiebedarf verursacht, was zu so gefährlichen Auswüchsen wie Atomkraftwerken führt

Die Stadt ist der Moloch, der die Kultur und die sozialen Strukturen des ländlichen Raumes verzehrt. Durch das Pendelwesen ist in vielen Landorten unter der Woche kaum mehr ein kulturelles Angebot möglich, da der Großteil der erwerbstätigen Bevölkerung an den ersten vier Wochentagen nicht erreichbar ist -zumindest nicht regelmäßig.

Pendelwesen und sonstige Formen räumlicher Mobilität verringern Nachbarschafts- und Verwandtschaftsbindung und erschweren sonstige ländliche Kontaktformen.

Der Konsum städtischer Medien beeinträchtigt ländliches Kulturgeschehen, das selbstverständlich mit der Perfektion und dem Aufwand aus dem städtischen Bereich nicht konkurrieren kann. Ein passiver Lebensstil wird gefördert, der das Interesse an echter Kultur mehr und mehr erlahmen läßt.

Die Stadt ist der Moloch, der die Ethik des ländlichen Raumes zersetzt. War das Land lange Zeit auch in dieser Hinsicht „gesunder Ausgleichsraum“, so wird der ländliche Raum zunehmend von städtischen Meinungen korrumpiert. Dies gilt in Fragen der ehelichen Treue ebenso wie in den Fragen des Schutzes der Ungeborenen, der Arbeitsmoral und des Konsumanspruches.

Der Moloch Stadt frißt auch die ' „Religiosität“ des ländlichen Raumes. Jüngere Untersuchungen zeigen die hochsignifikanten Zusammenhänge zwischen hoher räumlicher Mobilität (vor allem aus Gründen der Arbeit) und sinkender Religiosität und Kirchlichkeit. Alles, was gediegene Religiosität an ethischen und sozialen Werten impliziert hat und was gerade im Hinblick auf die Grunderkenntnisse der „Grenzen

des Wachstums“ verstärkt nötig wäre, wird damit beeinträchtigt und fehlt der Staatsgesamtheit: Ein Defizit, dessen Gefährlichkeit wesentlich höher zu bewerten ist als das auch nicht ganz harmlose Defizit des Staatsbudgets.

Bislang haben alle Kräfte dieser „Molochtätigkeit“ der Stadt mehr oder minder tatenlos zugesehen: die einen mit wohlwollenden Blicken, weü sie sich davon Vorteile für ihre Position erhofften, die anderen mit eher unangenehmen Gefühlen, weil sie doch die Gefahren dieser Entwicklung gesehen haben.

Nun ist es höchste Zeit, zu handeln. Denn ein Weitergehen dieser Entwicklung schadet nicht nur dem

„Der Moloch Stadt frißt auch die Religiosität des ländlichen Raumes“

ländlichen Raum, an seinen Folgen hätte die Staatsganzheit zu tragen.

Man hat lange Zeit die Agglomerationsvorteile überschätzt und die Agglomerationsnachteile unterbewertet. Das diesbezügliche Umdenken, daß sich in der Fachwelt nun anzubahnen beginnt, sollte endlich auch bei allen zuständigen Entscheidungsgremien Konsequenzen haben.

Neben den politischen Gruppierungen, den diversen Interessensver-tretungen müßte wohl auch die Kirche in dieser Frage verstärkt aktiv werden. Gerade ihr sind ja die Menschen des ländlichen Raumes heute noch in besonderem Maße verbunden, ihnen verdankt die Kirche sehr viel an geistigem, finanziellem und personellem Engagement, so daß sich aus Gründen der Gerechtigkeit und der Klugheit ein verstärktes Eintreten der Kirche für den ländlichen Raum und seine Menschen gebietet. Die Kirche darf jene nicht vernachlässigen, die zu ihren treuesten Anhängern zählen!

Sollte dem ländlichen Raum nicht rasch und intensiv geholfen werden, wird es für den ländlichen Raum nur zwei Möglichkeiten geben: in bitterer Resignation unterzugehen oder sich selbst zu helfen. Manche beginnende Bewegungen im ländlichen Raum deuten dahin, daß der ländliche Raum aufbricht zur eigenen Mündigkeit und zunehmend versucht, sich selbst zu helfen. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen. Es ist damit aber auch die Gefahr einer zunehmenden Radikalisierung verbunden, die eines Tages für alle bittere Konsequenzen haben könnte, wenn sie nicht beizeiten bereit sind, auch ihrerseits dem ländlichen Raum Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

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