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Fluchtweg aufs Land

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Mitten im Wahlkampf, am 16. und 17. September, findet in Graz der österreichische Bauerntag statt. Was diese traditionelle, alle drei Jahre abgehaltene Veranstaltung des österreichischen Bauernbundes dieses Jahr von allen bisherigen unterscheidet, liegt in der programmatischen Zielrichtung: es ist dies eine Öffnung in Richtung „ländlicher Raum“. Der Bauernbund hat dieses Thema zum Leitmotiv des diesjährigen Bauemtages gemacht.

Früher, als der Bauernstand alleinbeherrschender Faktor des Landes außerhalb der Städte war, konnte auch die Politik des Bauernbundes automatisch als Politik für diesen ländlichen Raum gelten. Später, als die „Gesundschrumpfung“ des Bauernstandes Fortschritte machte, war diese Identität nicht mehr so selbstverständlich, wurde aber von vielen Funktionären der alten Schule für selbstverständlich gehalten. Mit dem Generationswechsel der letzten Jahre ist hier eine Wiederbesinnung im Gange. Der ländliche Raum als Ganzes wird nicht mehr als Lebensraum der Bauern allein angesehen. Die Probleme dieses Raumes sind nicht nur Probleme und Sorgen der Landwirte, sondern gehen alle in diesem Raume lebenden und arbeitenden Menschen und auch die Bevölkerung der Städte, der industriellen Ballungsräume an.

Wenn das Land „ausgelaugt“ wird, sagt Bauernbunddirektor Dr. Sixtus Lanner, dann kann eine traditionelle Politik des Bauernbundes erstmalig den Erwartungen nicht mehr gerecht werden. Und er spricht davon, daß die hündische Gliederung der österreichischen Volkspartei der tatsächlichen Entwicklung nicht mehr entspricht. Eine Interessenvertretung, die sich nur um den Milch- und den Getreidepreis kümmert, ist tatsächlich einem Schrumpfungsprozeß unterworfen.

Nach den Märzwahlen 1970 hat es Zweifel in der ÖVP darüber gegeben,

ob die Bauern von den bisherigen Regierungen richtig behandelt wurden. Denn, wenn auch der damals gemeldete „Durchbruch“ Kreiskys in das Dorf vielfach auf veralteten Statistiken der Volkszählung 1961 beruhte, so bleibt anderseits die Tatsache, daß im politischen Lager der Bauern infolge einer unbefriedigenden Einkommensentwicklung bereits vor den Märzwahlen wachsende Unruhe festzustellen war. Wer aber heute den Bauern zur Lösung ihrer Probleme den Berufswechsel vorschlägt, der muß auch die Frage beantworten, was mit den verlassenen Gebieten, die in zunehmendem Maße auch für die städtische Bevölkerung den Lebensraum darstellen, geschehen soll. Wenn die Bevölkerungsdichte in diesem Raum weiter abnimmt, wandern eines Tages auch jene Berufstätigen ab, die mit und von den Bauern in diesem Raum lebten, ohne die aber dieser Raum heute unbewohnbar wäre. Dann wird aber das Land auch für die öffentliche Hand immer uninteressanter. Es gibt Anzeichen dafür, daß große Teüe in Ostösterreich, im Waldviertel, in der Oststeiermark und im südlichen Burgenland in zehn Jahren menschenleer sein könnten. Gleichzeitig aber werden die Ballungsräume infolge weiterer Industrialisierung und wachsenden Verkehrs immer weniger wohnlich.

Heute wird den Bauern auch diese Sorge aufgebürdet. Als einzige Berufsgruppe müssen die Bauern, wie dies der Bauernbund imlängst in einer Aussendung feststellte, für Bau und Erhaltung ihres Straßennetzes überwiegend selbst aufkom- men, obwohl die Wege von allen Verkehrsteilnehmern benützt werden. Mit der Bundesmineralölsteuer zahlen die Bauern auch für die Autobahnen, die sie mit ihren Maschinen nicht, und für die Bundesstraßen, die sie kaum befahren, während man in den Städten die Einführung des Nulltarifs für die Verkehrseinrichtungen erwägt. Der „Fluchtweg“ der Städter befindet sich aber nur in dam ländlichen Raum.

Die Bauernbundführung sieht die Bestätigung ihrer Bestrebungen in dem bemerkenswerten Umstand, daß sich angeblich immer mehr junge Leute auf dem Land, die gar keine Bauern sind, um die Mitgliedschaft im Bauernbund bewerben. Während der Bauernstand tatsächlich schrumpft, meldet der Bauernbund in Niederösterreich und in der Steiermark einen Höchststand an Mitgliedern. Eine auch in anderen ÖVP-Bünden als notwendig erkannte „Verzahnung“ der Bünde?

Eine jüngst gesamtösterreichische Meinungsbefragung im Bauernbund ergab, daß rund 67 Prozent der Befragten den ländlichen Raum nicht mehr nur nach landwirtschaftlichen Gesichtspunkten im Sinne einer Standesvertretung betreut wissen wollen, sondern die Bedeutung der Infrastruktur — von Kindergärten über Bildungseinrichtungen bis zu den Straßen, zur Verbesserung der ärztlichen Betreuung — bereits klar erkennen.

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