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Selbstzerstörung oder neue Lebensformen?

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Beim diesjährigen polnisch-österreichischen Soziologen-Sympsion behandelten Prof. Jan Turowski (Lublin) aus polnischer Sicht und Prof. Klaus Zapotoczky (Linz) aus österreichischer Perspektive theoretischer Ansätze und praktische Konsequenzen von (relativer) Strukturlosigkeit.

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Beim diesjährigen polnisch-österreichischen Soziologen-Sympsion behandelten Prof. Jan Turowski (Lublin) aus polnischer Sicht und Prof. Klaus Zapotoczky (Linz) aus österreichischer Perspektive theoretischer Ansätze und praktische Konsequenzen von (relativer) Strukturlosigkeit.

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Stadt ist ein kompliziertes soziales System, das aus vielen Teileinheiten besteht, und dessen Elemente in vielfältigen Ab-hängigkeits- und Beziehungsstrukturen stehen. Wenn auch die moderne Stadt nicht als strukturlos bezeichnet werden kann, ergeben sich doch gerade bei dieser Form menschlichen Zusammen-, Nebeneinander-, Aneinandervorbei-Lebens viele Probleme, hat man oft den Eindruck einer Strukturverflüchtigung. Probleme der Stadt und in der Stadt sind auch in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen und weltweit ähnlich.

Besondere Bedeutung für die soziale Struktur der Stadt haben:

• Die räumlich-funktionale Struktur oder Morphologie der Stadt: Hier sind vor allem folgende Probleme zu nennen: Zunahme der Bevölkerung in Ballungsräumen, Zunahme von sozialpathologischen Erscheinungen (Kriminalität, Selbstmord, Geisteskrankheiten) vor allem in den Stadtzentren, Umweltverschmutzung, Transport- und Kommunikationsschwierigkeiten, optimale Entscheidung zwischen Monofunktionalität einer Stadt (eines Stadtviertels), etwa als Wohn- oder Betriebs- oder Verwaltungsstadt, was zu Isolation und Vereinsamung führen kann, und Multifunktionalität einer Stadt (eines Stadtviertels) als Wohnort, Betriebsstandort und Verwaltungszentrum, was sich wechselseitig stark behindern kann; heute tritt man für eine beschränkte Multifunktionalität ein.

Mischung verschiedener Sichten führt zu Toleranz

• Die sozial-ökologische Struktur oder Struktur der sozialen Schichtung: Von vielen wird vertreten, daß in den modernen Städten Absonderung zum Allgemeinzustand wird, es zur Trennung nach Klassen, nach Stadtvierteln, nach Beruf, nach Altersgruppe, nach Geschlecht kommt, also eine vielfältige Segregation besteht. Die Wurzeln der räumlichen Absonderung hegen in der gesellschaftlichen Schichtung der Stadtbevölkerung; der soziale Status ermöglicht dem einen ein Leben in den „besseren“ Vierteln und treibt die anderen in die Slums. Daran schließt sich nun die Frage, wie neue Wohnsiedlungen und Wohnviertel geplant werden sollen, oder ob es für die Solidarität und das Zusammenarbeiten der Bewohner besser sei, homogene oder heterogene Bevölkerungsgruppen zu besitzen. Die Mehrzahl der Stadtsoziologen heute ist der Auffassung, daß Heterogenität der Segregation entgegenwirkt und daß die Mischung verschiedener sozialer Schichten, Berufs- und Altersgruppen zu Toleranz unter den Bewohnern führt und dadurch zur Integration der Menschen und zur Verbesserung der Sozialstruktur beiträgt.

• Die organisatorische Struktur der Stadt: In der modernen Stadt kommt es zur Aufspaltung der gesellschaftlichen Beziehung in Sachbeziehungen und persönliche Beziehungen, wobei die Sachbeziehungen dominieren, was zu einer „Entmenschlichung“ des Zusammenlebens, zu einer Behandlung der anderen als Sachen führt. Besonders in Polen wurden verschiedene Programme zur Unterstützung informeller Gruppen, Erneuerung der persönlichen Beziehung und von ursprünglich-unmittelbarer Umwelt und Förderung lokaler Gemeinschaft entwickelt.

Probleme der Anonymität und Vermassung in der Stadt zählen hierher; außerdem müssen die Fragen der vertikalen und horizontalen Koordination gelöst werden, was jedenfalls nicht dadurch möglich erscheint, daß sich der Trend einer Uberbetonung der vertikalen Koordination, wie er derzeit gegeben ist, noch verstärkt. Die organisatorische Struktur der Stadt ist aber vor allem mit dem Machtproblem, der Machtausübung und der Beteiligung der Bürger an Entscheidungen eng verknüpft. In Polen existieren Selbstverwaltungseinrichtungen (Hauskomitee, Siedlungskomitee, gewählte Kommissionen) die verschiedene Funktionen in ihrem Lebensund Aufgabenbereich erfüllen.

Zur Diskussion standen auch

österreichische Erfahrungen im Bereich der Gemeinwesenarbeit.

Trotz der zum Teil funktionierenden Mikrosysteme in Städten und

Stadtvierteln gewinnt der Gedanke immer mehr Bedeutung, daß sich die Stadtbewohner weniger auf räumliche und politische Aspekte der Stadt

beziehen als auf die städtische Lebensweise überhaupt, die Schnittlinie aller wichtigen gesellschaftlichen Teilsysteme wie Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Information, Kommunikation, Politik, alles Träger kognitiver Erwartungen von weltweiter Reichweite.

Gleichzeitig mit der Zunahme der Erwartungen und Möglichkeiten in der Stadt wächst auch das Konflikt-

potential. Prof. Mongardini aus Rom beschäftigte sich eingehend mit den politischen Beziehungen in der Stadt und stellte einen Kontaktbruch zwischen Herrschenden und Beherrschten, ein Fehlen von persönlichen Beziehungen fest. Er spricht von einer latenten Feindseligkeit in der Stadt, die sich nicht gegen dieses oder jenes Individuum richtet, sondern gegen die Gesamtheit von Symbolen, Objekten, Äußerlichkeiten. Man fragt sich, wohin die moderne Stadt fuhren wird: Zur Selbstzerstörung oder zu neuen Lebensformen,“ die der Stadt einen höheren Grad von Rationalisierung auferlegen und eine größere Ausschaltung individueller Persönlichkeiten bedingen. Bezüglich der kulturellen Lage der Großstadtbewohner könnte man sagen, daß sie nicht wie seinerzeit die Franziskaner nach dem Motto leben „Nihü haben-tes omnia possidentes“, sondern für sie eher gilt „Omnia habentes, nihü possidentes“, alles haben, nichts sein.

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