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Digital In Arbeit

Fortschrittliches Christentum

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PROGRESSIVER KATHOLIZISMUS. I, Il. Von Wilfried D a i m. Band I 170 Seiten DM 12.80, Band II 200 Seiten. DM 12.80. Verlag Manz München.

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PROGRESSIVER KATHOLIZISMUS. I, Il. Von Wilfried D a i m. Band I 170 Seiten DM 12.80, Band II 200 Seiten. DM 12.80. Verlag Manz München.

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Mit der Auslieferung des zweiten, speziellen Teiles liegt nun die gesamte Arbeit „Progressiver Katholizismus” von Wilfried Daim vor. Die beiden im (katholischen) Manz-Ver- lag, München 1967, erschienenen Paperbacks — graphisch eher bür- gerlich-konventionell gestaltet — bieten eine originelle Soziologie des Katholizismus (Teil 1), ausführlich dokumentiert im Hinblick auf die aktuelle Kirchenentwicklung (Teil 2).

Selbst von der „Unmöglichkeit und Unehrlichkeit” wertfreier Sozialwissenschaft überzeugt, definiert Daim in Teil 1 seine eigene Wertposition wie folgt: „Wir halten den Aufstieg der jeweils unteren ,Klasse’ für echten Wert; was einem solchen Aufstieg dient, ist fortschrittlich, progressiv. Die Zementierung der bestehenden Verhältnisse dient natürlich den jeweils Herrschenden, ist konservativ und als solche fortschrittshemmend. Dabei soll der Einwand der konservativen „Fortschrittlichen”, daß nur eine allmähliche Änderung der Systeme zu rechtfertigen sei, da radikale Änderungen gerade jenen schaden, denen zu nützen sie vorgeben, durchaus Beachtung finden” (S. 12 f.).

Nach einer zuwenig auf die poli- tisch-gesellschaftliche Komponente eingehenden und auch sonst nicht ganz präzisen Definition des Begriffes „Katholizismus” wendet sich der Verfasser den Begriffsinhalten „progressiv”, „konservativ” und „reaktionär” zu. Hiebei kommt der Begriff „konservativ-fortschrittlich” oder „konservativ-evolutionär”, der in der Realität eine große Rolle spielt, eindeutig zu kurz, ja wird überhaupt nicht erwähnt. Sehr treffend ist hingegen das für Entwicklungsländer geprägte Raupe-Puppe- Schmetterling-Modell (S. 40).

Im weiteren legt der Autor ein Bekenntnis zur Geschichtsauffassung des historischen Materialismus ab. Obwohl Daim die Folge Sklavenhaltergesellschaft — Feudalgesellschaft — bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft — Sozialistische Gesellschaft — Kommunistische Gesellschaft „zunächst nicht als historisch notwendigen Ablauf, sondern als eine Wertungsskala” (S. 40) auffaßt, operiert er mit größter Selbstverständlichkeit damit „historisch”. Er ist überzeugt, daß der Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft notwendig ist, weil „die Relation Arbeitgeber— Arbeitnehmer, die sich durch den Besitz bzw. Nichtbesitz von Produktionsmitteln unterscheiden, etwas prinzipiell Unmoralisches darstellt, analog zur Sklaverei, wo die Eigentumsrelation zwischen Sklaven und Herren auch dann etwas prinzipiell Unmoralisches ist, wenn es dem Sklaven außerordentlich gut geht” (S. 49).

Auch dabei beruft sich Daim auf Paul VI. (Anm. 24). Den „ernstzunehmenden Einwänden von konservativer Seite”, daß es keinen Beweis dafür gäbe, daß eine sozialistische Gesellschaft besser funktionieren würde als eine kapitalistische, hält er zwei Argumente entgegen:

1. Hätten auch die freigelassenen Bauern zunächst nicht so gut gewirt- schaftet wie ihre früheren Feudalherren,

2. stünde das sozialistische System dort, wo es versucht würde, vor so ungeheuren Aufgaben, daß es nicht verwunderlich sei, wenn es bisher nicht besser funktioniert hätte als der Kapitalismus.

Bei 1. übersieht Daim, daß dem Übergang von Produktionseigentum aus den Händen der Feudalherren in die Hände freier Bauern der Übergang der Produktionsmittel aus den Händen freier Unternehmer nicht in die Hände echt verantwortlicher Arbeiter oder Angestellter, sondern die zwangsweise Übertragung entweder in die Hände des Staates (und damit der „Neuen Klasse”) oder eines schwer überschaubaren, bürokratischen Kollektivs (Genossenschaften. Kolchosgemeinschaften) gegenübersteht. Wodurch ein moralisches Engagement für die behaupteten Werte des Kollektiveigentums von vornherein wegfällt.

Zu 2. schränkt der Verfasser selbst ein, daß die Übergangsschwierigkeiten systemimmanente und deshalb unbehebbare Dauerschwierigkeiten sein könnten, was aus Progressivismus Wunschdenken machen würde.

Dem Gewissen des Katholiken stellt sich die Frage: Kann ich auf eine bloße Sozialhypothese hinauf einer Gesellschaft erhebliche Opfer aufbürden und jahrhundertealte Sozialstrukturen von heute auf morgen zerstören?

Gut gelungen ist die Auseinandersetzung mit der „Problematik des Überspringens von Entwicklungsschritten” und der „Entwicklungsverfassung der Kirche” (S. 52 ff.), worin Daim nachweist, daß Kommunismus wie Kirche gegenwärtig die Phase des bürgerlichen Liberalismus (gekennzeichnet durch geistige Freiheit und Demokratie) nachzuholen suchen.

Ein Patentrezept hat der Verfasser für das „Bemühen des progressiven Katholiken” in unseren Breiten parat: „Im Fall der kapitalistischen Länder wird er die Tendenz besitzen, die Länder zu sozialistischen Umgestaltungen zu lenken, die liberalen Errungenschaften _ jedoch beizubehalten trachten. Falls er in einem sozialistischen Land lebt, wird er zwar die sozialistische Entwicklung bejahen, jedoch das Nachholen der liberalen Phase betreiben” (Seite 90 f.). Ist Österreich mit seinem extrem hohen Verstaatlichungsgrad (73 Prozent der Aktiengesellschaften im Bereich Industrie/Gewerbe werden direkt oder indirekt von der öffentlichen Hand kontrolliert) und seinem nahezu lückenlosen sozialen Schutz wirklich ein „kapitalistisches Land”? Manchmal scheint gerade in unserem Obrigkeitsstaat das weitere Nachholen der liberalen Phase wichtiger!

Im folgenden betreibt Daim mit der dem Tiefenpsychologen eigenen Freude am Ausloten seelischer Einstellungen das neckische Spiel „hie rechts — hie links”. Er sieht dabei viel Richtiges; das Peinliche liegt nur darin, daß man heute lange suchen muß, um jene konservative und reaktionäre Haltung zu finden, von der Daim sagt, sie habe „etwas Neurotisches” an sich. De facto sind nämlich nicht nur „im Denken der Konservativen” ex-cathedra Entscheidungen plus Enzykliken und päpstlichen- Ansprachen „unfehlbar”, sondern geradeso im Denken der „Progressiven” — soferne die genannten Enunziationen nicht konservatives Gedankengut enthalten.

Eines aber muß anerkannt werden: Der Erfolg der „prophetischen” Kritik der Linkskatholiken an der Kirche hat das Diskussionsklima weitgehend entgiftet. Die Amtskirche ist heute bereit, die Notwendigkeit freier Meinungsbildung im kirchlichen Bereich zuzugeben. Damit ist dem brüderlichen Dialog zwischen Menschen guten Willens eine Grundlage geschaffen. Es darf damit allerdings niemand wundern, wenn die an der Abfassung der „Fortschrittsenzyklika” maßgeblich beteiligten französischen Dominikaner auch bei Marx die eine oder andere auf die gegenwärtige Weltlage zutreffende Aussage zu finden vermochten.

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