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Jenseits von Links und Rechts

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Wir bringen im folgenden einen Abschnitt aus Herbert C y s a r z : Jenseits von Links und Rechts — Befunde Durchblicke, Zeitgespräche“ (H.-Bauer-Verlag, Wien), dessen Besprechung in der „Furche“ vom 14. Jänner 1950 in unserer Leserschaft ein lebhaftes Für und Wider erregt hat.

.Die österreichische Furche“ Aus dem totalen Sumpf hinausführen wird uns nur eine Geistigkeit und Gesellschaft, die nicht wechselseitige Aufpeitschungen zu immer krasserer Totalität, sondern die wechselseitige Zügelung all der Unsachlichkeiten, Unredlichkeiten, Unverantwortlichkeiten auf den Weg bringt. Das verlangt nach Entpoliti-sierung des Geisteslebens und in cjewis-sem Ausmaß der Politik selbst — was keine Schwächung, vielmehr eine stärkende Selbstkontrolle des Kollektivismus besagt. Fruchtbare Politik ist immer auch Selbstbegrenzung der Politik, Entpolitisierung der Seelen um der Freiheit und der Sachen um der Notwendigkeit willen. Und Sachlichkeit ist nicht Ablehnung oder Vermeidung aller politischen Standpunkte, sondern das Vordringen zur Sache von allen Standpunkten her und durch alle Kollektive hindurch. Dogmatische Politik hingegen verfälscht das Denken, das Sehen, 'das Handeln; sie ist im Grund weder Weltanschauung noch Politik, sondern ein unlauteres Paktieren („Packeln“) zwischen beiden.

Die wesentlichsten Wahrheiten unserer Zeitwende liegen jenseits von Links und Rechts, jenseits all der Pro-contra-Systeme, die die Scheingegensätze der endenden Neuzeit verewigen möchten. Schon daß heute jederlei Links und Rechts ideologischen, immer wieder totalitären Charakter annehmen will, schon das beweist nicht bloß die Unmöglichkeit, vermittels mathematischer Proportionen und ziffernmäßiger Ausgleiche den Willen einer Gesamtheit darzustellen. Es bezeugt auch eine tiefere Gerichtetheit der politischen Arbeit nach einer mehr als politischen Gesamtordnung jenseits von Links und Rechts. Erst diese verknüpft das parteiliche Handeln nicht nur mit der Menschheit, sondern auch mit dem Einzelmenschen. Sie gibt dem Glauben, was des Glaubens und dem Nutzen, was des Nutzens ist. Und sie verleiht der Vielheit der Wege und Ziele die Einheit wenigstens des schöpferischen Kampfes.

Das Ideal des völligen Gleichgewichts aller Gruppen läßt sich nun einmal nicht verwirklichen. Politik bleibt Austragung konkreter Interessen, konkrete Bereinigung gegensätzlicher und Wahrung gemeinsamer Dinge. Und Politik braucht scharfe Instrumente, sachliche Arbeitspläne und zuverlässige Organisationen. Parteien sind weder Weltanschauungen noch Surrogate von Kirchen (so wenig wie anderseits Kirchen ein Ersatz der Erkenntnis oder der Politik sind); vielmehr Bewältigungen gesellschaftlich-geschichtlicher Nöte, Kämpfe um irdische Wohlfahrt und um den Menschen im umfassendsten Sinn. Wer mehr für die Gesamtheit tut, Mitbürger und Völker, der waltet der besseren Sache. Hier gilt es weder Politik als Religion noch Religion als Politik (beides ist falscher Totalitarismus), sondern gläubige Konvergenz aller Politik. Jeder Radikalismus hat Menschheitsanliegen zu realisieren, nicht Eigeninteressen zu totalisieren.

Darum noch keine realpolitische Stand-punktlosigkeit! In gegebener Lage ist immer Ein Ziel und Verfahren am fruchtbarsten; der Wille zum Fruchtbarsten aber kann die verschiedensten Mittel und Ziele vereinen. Der Absolutismus des Seins bedingt einen Relativismus der Wirklichkeit, der nicht divergente Rezepte verficht, sondern von allen Ausgangsorten her die konvergenten Realisationen sucht. Doktrinäre Totalität hingegen bleibt im ganzen stets Utopie, in Wirklichkeit parteiischer Zwang, Apo-diktizität statt Kritik, Unsachlichkeit schlechthin und damit Nichtachtung auch des Menschen. Auf solcher Straße steigert jede Revolution nur die Negativselektionen und führt noch weiter fort vom Gemeinsamst-Dringlichsten: der Freiheit des Menschen zu 'seinen menschheitlichen Obliegenheiten, dem einhelligen Aufgebot der Menschheit in allen Besonderungen des Tages und des Ortes. In diesem Absehen haben wir aus der Demokratie die Totalität auszutreiben.

Eben die universale Aufgabe fordert je und je die konkrete Freiheit: Freiheit des Glaubens, der Gesinnung und des Wortesj Freiheit der Forschung und Lehre, des Appells an die Mit-und Nachwelt; Freiheit des Berufs, des Aufenthalts, der Arbeitsstätte und viel mehr. All dies, sofern es die gleichen Freiheiten anderer nicht unmittelbar und erweislich einschränkt. Und jedesmal integrale Freiheit! Halbe Freiheit, Freiheit etwa nur innerhalb einer zugelassenen Hälfte von Meinungen, ist ganze Unfreiheit, die auch den zugelassenen die Vertrauenswürdigkeit entzieht; daher die Unfreiheit einer Hälfte der Mitbürger auch die andere unfrei macht. Parteiungen bleiben so unvermeidlich wie Zwiste der Interessen, sie können , weder durch uferlose Diskussion noch durch vielzüngige Toleranz, geschweige gallertige Promiskuität eingeebnet werden. Dennoch bedingt die Konvergenz ins Letzte die weiteste Offenheit, das Verständnis für Widersprüche, eine Fähigkeit des Begegnens, die sehr viel seltener als die Bereitschaft zur Verschmelzung oder umgekehrt zum Streit ist.

Vermutlich wird dasjenige Geistesleben, das alle Standpunkte am freiesten zu Wort kommen läßt, die kulturelle Führung ergreifen. Es wird durch die

Freiheit jeden Standpunkt als Standpunkt neutralisieren und die Blicke überallher auf die Sache lenken. Nun ist freilich auch schon die nackte Gewalt, die schiere Unsachlichkeit zum Standpunkt erhoben worden. Indessen, falsche Standpunkte werden am schlagendsten widerlegt, indem ihre Behauptungen als unwahr, ihre Leistungen als unfruchtbar erwiesen werden — nur in der Sache selbst gibt es so zwingende Beweise. Im übrigen sind sogar schon unter unsachlichen Devisen sachliche Werke vollbracht worden. Es wäre unsachlich, solche Kinder mit ihrem Bad auszuschütten; so gewiß unsachliche Vorsätze, zum Beispiel in der Wissenschaft, von vornherein bekämpft werden müssen. Und zwar sachlich bekämpft. Irgendwelche persönlichen Interessen haften ja noch der sachlichsten Leistung an. Wo man sich vorerst in den Streit um Standpunkte begibt, da kommt es überhaupt nicht mehr zu sachlicher Würdigung der Leistungen. Wenn gar der Standpunkt allem anderen voransteht, wird binnen kurzem kein Mensch mehr den Nächsten verstehen. Man nähert sich da einem Zustand, wo menschliche Gegensätze nirgendwie durch Gründe und Gegengründe, vielmehr durch Unterdrückung, letztlich Ausrottung, entschieden werden. Eine gütliche Vereinigung sämtlicher Standpunkte läßt sich keinesfalls erhoffen. Willenshaltungen sind nun einmal in-transigent. Allen Standpunkten aber können Leistungen beigesellt sein, die verträglich und versöhnlich in die seinsgültige Allsache weisen. Nach dieser will jede Hervorbringung unbestechlich gewogen sein, nach ihrer Leistungsseite also, ohne Rücksicht auf die Etikette des Standpunktes. Damit aber werden auch schädliche Standpunkte am zuverlässigsten entkräftet und schließlich beseitigt.

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