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Die Taufe der Demokratie

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REVOLUTION UND KIRCHE. Studien zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie 1789—1850. Von Hans Maier. Verlag Rombach, Freiburg im Breisgau. 250 Seiten.

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REVOLUTION UND KIRCHE. Studien zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie 1789—1850. Von Hans Maier. Verlag Rombach, Freiburg im Breisgau. 250 Seiten.

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Der junge Freiburger Historiker legt hier eine bedeutende und gewichtige historische und geistesgeschichtliche Studie vor, die jeder an der neueren politischen und inneren Geschichte Europas Interessierte in die Hand nehmen sollte. In unserer Zeit beginnen ja neue Auseinandersetzungen in der Kirche und im Christentum um die Demokratie; beider Zukunft wird von diesem Ringen mitbestimmt werden. Einem wachsenden Mißtrauen, ja einer gewissen Animosität kirchlicher Kreise gegen die Demokratie und gegen demokratische Institutionen, in gewissen Ländern zumal der lateinischen Hemisphäre, tritt ein lebhaftes kirchliches Engagement in der Demokratie in Mitteleuropa und den angelsächsischen Staaten gegenüber. Niemand vermag heute zu sagen, wie die Zukunft aussehen wird: Inwieweit in der Kirche und in der Demokratie es zu einem gesunden Wachstum an innerer Freiheit, an Selbstfindung kommen wird. Diese überaus kritische Situation unserer Zeit, eine Krise, die tiefer und weiter reicht als manche lauten Demonstrationen und politischen Spektakel auf einer vordergründigen politischen Bühne, wird naturgemäß von den Beteiligten ungern in der Oeffentlichkeit erörtert. Hier und dort nur wird durch eine Explosion — etwa um die Arbeiterpriester — etwas sichtbar von dem großen unterirdischen Kampf unserer Zeit: wird die Führung der Kirche in der Zukunft sich für die Renaissance paternalistischer politischer Autoritäten einsetzen? Oder wird sie sich weiterhin in dem großen Experiment engagieren, das Papst Leo XIII. begonnen hat, indem er Frankreichs Katholiken bat, sich mit der Republik zu versöhnen und also die Aufgaben zu übernehmen, die Lamennais und Buchez ab 183o als Ziel der christlichen Demokratie formulierten: „Die Taufe der Demokratie"? Die Kirche wird vielleicht beide Wege gehen, und noch manch’ anderen Weg dazu…

Wie immer dem sei, die Gegenwart, die kirchlich, christlich, politisch und gesellschaftlich interessierte. Gegenwart kann sich faszinieren lassen durch die Blicke, die Hans Maier öffnet: Blicke in den Schmelztiegel der Revolution, von 1789 zunächst und der Folgezeit, in jenen Kessel explosiv-starker Kräfte, zwischen 1789 und 1830, dann 1848,. in dem nahezu alle politischen Ideen unserer Zeit vorgedacht, vor- experimentjert wurden. Und in diesem Zusammenhang eb'in' auch did „chrištlitliė Ddtnokttttid "" DiSStf' „christliche Demokratie" im revolutionären und nach- revolutionären Frankreich isblfėfkas sehr anderės als“ die christlich-sozialen Parteien des 20. Jahrhunderts, ist vor allem sehr zu unterscheiden von den Parteien des politischen Katholizismus in Belgien, Holland und

Deutschland zunächst im 19. Jahrhundert. Diese politischen Parteien der Katholiken wollen den Katholizismus im nationalen Staat einwurzeln, wollen dem Katholiken Mitsprache in einem von anderen Elementen bestimmten Staatsgefüge verschaffen. Das „Politische“, die politische Tagesarbeit und Praxis, steht hier durchaus.im Vordergründe; Arbeit der Partei und in. der Partei, Arbeit in Parlamenten und staatlichen Positionen, um die gerungen wird. Anders die „christliche Demokratie" in Frankreich 1789 — 1830 — 1848 zunächst: Ihr geht es rundweg um das große Ganze: um das Bündnis der Weltkirche mit den „Barbaren", um die Einwurzelung der ganzen Kirche in neuen gesellschaftlichen, politischen, geistigen Verhältnissen. Der Zukunft zu, einer Zukunft in einer Freiheit, wie sie damals weder die Kirche noch die Demokratie gesellschaftlich realisierte, war da das Ziel. Verständlich von hier aus bereits das damalige Scheitern der „christlichen Demokratie“: Weder die Demokratie, intolerant aus vielen Wurzeln und Gründen, noch die Führung der Kirche konnte und wollte sich mit dieser Zukunftsmusik befreunden. Wobei für die „christliche Demokratie“ erschwerend ins Gewicht fiel: sie selbst war alles eher als einheitlich, kam von sehr verschiedenartigen, ja gegensätzlichen Ursprüngen und Quellen her: wobei der Versuch katholischer, ja klerischer Jakobiner, die Große Revolution für Kirche und Katholizismus zu gewinnen (K. D. Erdmann hat in seiner „Volkssouveränität und Kirche“, Köln 1949, zum ersten Male im deutschen Raum auf diese Verbindungen zur Revolution von 1789 hingewiesen), eine wichtige Vorstufe bildet. Erst das Einlenken Leos XIII. hat das kühne Denken dieser frühen christlichen Demokraten um Lamennais wieder zur Diskussion gestellt, die neuzeitliche Aussprache eröffnet und damit auch neue Auseinandersetzungen um Wesen, Struktur, Aufgabe der Demokratie. Nicht zuletzt begibt sich die Kirche damit in ein primär geistiges Ringen, das für ihre Existenz und für ihr Selbstverständnis in den neuen Gesellschaften, in Afrika. Asien, aber auch in der pluralistischen Gesellschaft der angloamerikanischen Sphäre wichtige negative und positive Vorbestimmungen setzen wird. Um es kurz zusammenzufassen: Auf einer neuen Stufe stehen heute und morgen dieselben Auseinandersetzungen bevor in der, Kirche, die vor mehr als 100 Jahren in den Wagnissen der französischen „christlichen Demokraten" und der heftigen Reaktion ihrer zahlreichen Gegner erstmalig präsent wurden. Dies allein sollte ein Grund sein, nicht nur „historisch Interessierte" einzuladen, diese wichtige Studie zu studieren.

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