6755685-1967_44_14.jpg
Digital In Arbeit

Das Phänomen Religion

Werbung
Werbung
Werbung

RELIGION UND GESELLSCHAFT. Einführung In die Rellfrlonssoztologie. Von Joachim

Matth, „rowohlts deutsche enzyklopädle“. Hamburg, 1967. 36 Selten. DM 4.80.

Die Gleichsetzung von Religion und religiösem Verhalten mit Kirche und einem kirchenbezogenen Verhalten hat in den letzten Jahrzehnten vielfach zu einer Beschränkung der Reliigionsisoziologie auf Kirchensoziologie geführt, also zur Absolutsetzung spezieller Aspekte. Ähnlich war es im Ursprung der Religionssoziologie, als deren Vertreter ihre Wissenschaft lediglich als eine besondere Form der Religionskritik und der Rückführung von (religiös deklarierten) „Vorurteilen“ auf profane Determinanten verstanden hatten.

Die im Rahmen der Untersuchungen der Kirchensoziologie festgestellte Entkirchlichung führte in Konsequenz einer Beschränkung der Religions- auf Kirchensoziologie dazu, daß das Phänomen der Säkularisierung schließlich zum elementaren Gegenstand des Faches zu werden begann, also eine evidente und (massenweise) Glaubens- und Kirchenlosigkeit. Religion und Kirche, ehedem sozial relevante Erscheinungen, Kontröllinstanzen und sozialmächtige Institutionen, wurden oder sind nunmehr vielfach funktionslos und dadurch keine Realität im Sinn der Soziologie. Die Religions- als Säkularisderungs-soziologie sah auf diese Weise in der Religion und in den konformen organisatorisch-institutionellen Verdichtungen in den Kirchen, lediglich die für das Fach ehedem konstitutiv gewesenen Elemente und bedingt Katalysatoren, da Säkularisierung nur denkmöglich ist, wenn vorher Religion und Kirchen besttmumings-mächtig gewesen sind.

Im Soziologismus eines Dürkheim wurde dagegen das Religiöse — als eine Scheidung der Dinge in profane und sakrale — als immanenter Reflex gesellschaftlicher Prozesse angesehen. Bei Marx war die Religion Index von Interesse oder von Versorgungsmankos und an deren Entwicklungsprozeß gebunden. In beiden Fällen konnten Religion und religiöses Verhalten lediglich den Charakter von innerweltlichen Erscheinungen haben. Insoweit schienen sie der Soziologie zugänglich.

Dazu kam noch das Dilemma aller jener Teil-Soziologien, die aus der Natur ihres spezifischen Gegenstandes (wie etwa die Kultursoziologie) auf die Geisteswissenschaften hin angelegt sind: mit nur-allgemsinen Begriffen zu arbeiten und dabei lediglich auf eine Wesensermittlung hin zu operieren. Andere wieder sahen im Phänomen der Religion kaum mehr als eine radikale historische Kategorie, eine Widerspiegelung einmaliger historischer Bedingungen, mit einer arteigenen und eingeborenen Absterbeordnunig. Und wieder andere vermochten den Zugang zum Religiösen nur durch dessen Akkumulation in Quantitäten zu gewinnen, so daß sich Religion in ZafMen ausgliederte. Das gilt vor allem für manche Kirchensoziologen, die ihre unter pastoralen Gesichtspunkten handelnden Auftraggeber für die Ansicht zu gewinnen suchten, es sei möglich, das Religiöse in Frequenzziffern darzustellen, zum Beispiel in der Relation von Kirchenbesuchern zur Gasamtzahl der Bevölkerung oder der intabulierten Christen. Je geringer die Zahl der Kirchenbesucher, desto eher schien daher die Annahme einer Säkularisierung (als Status oder als Prozeß) gerechtfertigt.

Im Lauf der Untersuchunigen und bei Kontrolluntersuchungen ergab sich, daß Religion und Kirchlichkeit keineswegs identisch sind, ganz abgesehen davon, daß sie bereits je für sich vielschichtige Erscheinungen sind. Immer mehr erkannte man außerdem, daß Religiosität keineswegs kirchengebunden sein muß und daß anderseits die Neigung von Menschen, sich im Rahmen der Kirchen religiös zu betätigen (Internationali-sierung von Kulten u. ä.), durch eben diese Kirchen oft behindert wurde; so wenn der politische Katholizismus sich als Vorfeld der Kirche etablierte und Kirchenbesuch nur über das Filter der ostentativen Anpassung an eine bestimmte Partei möglich schien.

Je mehr sich die Religionssoziolo-gie auf die Säkularisierungsthese auf der einen Seite und auf Kirchen-soziologie auf der anderen Seite konzentrierte (unter gleichzeitiger Ausklammerung der Indifferenzzonen, in denen die Verhaltensweisen sich einer Quantifizierung weitgehend entzogen), um so mehr kannte man gegenläufig unter Religionssoziologen Versuche feststellen, den Gegenstand der Religionssoziologie neu zu bestimmen oder zumindest eindeutiger festzulegen.

★

Das vorliegende Buch des bekannten Religionssoziologen und Mitherausgebers des Internationalen Jahrbuches für Religionssoziologie, Professor Matthes (Münster) geht von der Annahme aus, daß es nunmehr an der Zeit sei, den Inhalt der

Religionssoziologie einer realkonformen Anpassung an das Phänomen der Beziehungen von Religion und Gesellschaft zu unterscheiden. Die NeU'begrümdiung der Religionssoziologie ist nicht so sehr ein Methodenproblem, sondern in erster Linie im Bemühen ausgewiesen, die soziologischen Untersuchungen auf jene religiösen Prozesse, die soziale Relevanz halben, zu konzentrieren. Die bisher behauptete Realkonformität mittels einer Verdinglichung der religiösen Erscheinungen durch die Objektivierung menschlichen Tuns bis zum Unternehmen, sie zu messen, konnte die Wirklichkeit des religiösen Verhaltens und seines Einflusses auf die Gesellschaft nicht angemessen erfassen. Der Verfasser schlägt daher eine Beschränkung des Untersuchungsfeldes vor zum Beispiel in der Art, daß sich eine Soziologie des expliziten Christentums in einer abgrenzbaren Region etabliert. Außerdem muß sich die Religionssoziologie (nach Matthes) als eine zentrale soziologische Disziplin verstehen, da Gesinnung in der Darstellungsweise religiös deklarierter Haltung ein Signum für das Wesen jeder Gesellschaft ist. Daher ist für Professor Matthes die Untersuchung der Beziehungen von Religion und Gesellschaft eines der wesentlichen Probleme gegenwärtiger Soziologie. Vorläufig hat es die Soziologie freilich nicht vermocht, das Wesen der Religion ausreichend zu erfassen oder die religiösen Determinanten des sozialen Verhaltens bloßzulegen, weil sie vorweg von der Religion und nicht von einer spezifischen Religion auagegangen ist ★

Das Buch von Professor Matthes hat nicht den Charakter eines Lehrbuches und zeugt auch nicht von einer Absicht des Verfassers, eine besondere Richtung innerhalb der ReligionssaaioiLogie zu begründen.

In erster Linie beschäftigt sich der Autor damit, den Leser in die Bestimmungsgründe der Religionssoziologie einzuführen, die der nach-reformatorischen Form der Religionskritik entstammt. Hierauf werden die Probleme der Religionssoziologie an Hand der Thesen repräsentativer Vertreter des Faches (Dürkheim, Max Weber, Luckmann, Tenbruck, Schelsky) referierend-kri-tisch dargestellt, derart kritisch, daß der Autor feststellt, die Religionssozioilogie müsse erst das, was sie sein sali, begründen (S. 31). Die Ursache für diesen provokativen Hinweis ist die oben erwähnte offenkundige Unbestimmtheit des Gagenstandes (zum Beispiel ob all-

gemeine oder eine bestimmte Religion). Jedenfalls sind die elementaren Thesen der Religionssoziologie, die Integrationsthese, die Kompen-sations- und die Säkularisierungsthese noch unzureichend, um das Verhältnis von Religion und Gesellschaft zu analysieren. Im allgemeinen stimmt der Verfasser den Schlüssen des US-Amerikaners Lenski zu, der eine sozio-religiöse Subkultur als (bisher-noch fehlendes) Bindeglied zwischen religiösen Primärgruppen und den institutionalisierten Religionen annimmt.

*

Das Buch hebt sich wohltuend von jenen Darstellungen religionssoziologischer Themen ab, die nur auf „Enthüllung“ zielen oder nichts anderes sein wollen als eine verdeckte und nicht selten affektgeladene Propaganda mittels wissenschaftlicher Instrumente. Für viele, die mit dem Hinweis auf ihre „Wertefreiheit“ operieren, ist diese Wertefreiheit nur ein Dekorum, dessen man sich dann bedient, wenn anderswo Wertungen festgestellt werden und dem Gegenstand gegenüber unangemessen sind, während man in eigener Sache fest engagiert ist und in der behaupteten Wertefreiheit lediglich ein Instrument eigener, wenn auch nicht offen zur Schau getragener Wertung sieht.

Der Verfasser verlangt daher nicht ausdrücklich Wertefreiheit — diese ist ihm ohnedies Voraussetzung seiner Untersuchungen —, sondern ein raligions-soziologisches Denken, also ein optimal ideologiefreies, lediglich auf die sozialrelevanten Sachverhalte bezogenes Denken. Keineswegs soll die Religionssoziologie weiterhin eine Oppositionswissenschaft sein (das war sie zuweilen ohne ihr Zutun und mit Recht), nicht eine Form gegenwärtiger Aufklärung. So attraktiv dies auch zu sein scheint. Was nottut, ist eine Begrenzung des Untersuchungsfeldes im Sinn einer soziologischen Einseitigkeit. Dagegen ist es nicht — wie Schelsky in einem im Buch wiedergegebenen Aufsatz mit Recht betont — nicht Aufgabe der Religionssoziologie. Fragen wie jene nach dem Schicksal der Religion oder dem Glauiben des modernen Menschen zu beantworten.

Ausgewählte Texte zur klassischen und zur modernen Religionssoziologie (die jedoch m. E., einer Ergänzung bedürften) vermitteln einen Einblick in die Problematik, mit der die Religionssoziologie ehedem befaßt war und noch heute befaßt ist.

Dem vorliegenden Band folgt 1968 ein zweiter, der sich mit der Frage von „Kirche und Gesellschaft“ befassen wird.

Universitätsprofessor

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung