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Kein Zunglein

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Nur zwei Wochen trennen Österreich von dem Tag der Wahl des Bundespräsidenten. Die zwischen den beiden großen Parteien getroffene Vereinbarung bestimmt diese zwei Wochen für die Wahlwerbung und hebt deren Formen, entsprechend der Würde und dem Ziel des unmittelbaren Volksentscheides, des ersten in unserem Lande, aus dem Lärm und der kämpferischen Bewegung anderer Wahlen heraus. Das Abkommen ist ein Musterbeispiel geübten, gesunden Gemeinsinnes und der zu Lande und zu Wasser vielberufenen Demokratie. Wenn auch nicht ungetrübt von Ausnahmen, so konnte man doch seine Wirkungen schon in den bisherigen Vorbereitungen der Wahl verspüren. Ausländische Beobachter, die in letzter Zeit in unserem Lande weilten, waren nicht wenig verwundert, angesichts des bevorstehenden großen Ereignisses, dert Besetzung der obersten von der -Verfassung mit außerordentlich weitreichenden Befugnissen ausgestatteten Staatswürde, die Debatten um diesen bedeutungsvollen Wahlgang des österreichischen Bundesvolkes im allgemeinen von ruhigem Gleichmaß bewegt zu spüren.

Vorhandene Spannungen haben ihren wahrnehmbaren Ausdruck auf abseits der Bundespräsidentenwahl liegende Zonen verlagert. Schon das Unternehmen, die Angestellten der unter der Hitlerherrschaft aufgelösten Arbeiterkammern einer rückwirkenden, den vorausgegangenen Entscheidungen aller gerichtlichen Instanzen widersprechenden, unverhüllten Strafbestimmung zu unterwerfen, weil sie ihren Dienst als Angestellte in der Zeit des Staatsversuches um die Aufrichtung der berufständischen Ordnung getan hatten, entsprach einem schlechten Konzept; die Verteidiger, die sich im Bundesrat für die offenbar durch eine Verkettung besonderer Umstände im Nationalrat unbeanstandet gebliebene Gesetzesbestimmung erhoben, verzichteten auf eine sachliche Begründung ihres Standpunktes und deckten die Lücke durch Ausfälle, an denen das Bemerkenswerteste war, daß sie mit der verhandelten nicht gleichgültigen Frage um die Pensionsansprüche von Angestellten und Arbeitern und ihrer Familien nichts zu tun hatten. Aus anderen Spitzigkeiten stach gleichzeitig die eingelegte Lanze eines Parlamentariers aus vorderster Reihe hervor, eines Mannes, der es nicht selten liebt, seine polemische Rhetorik mit bitteren Zutaten bis an den Rand zu würzen; diesmal machte er mit einem Kollektivverdikt den „in der Handelskammer organisierten Strumpf-, Schrott- und Waffenschiebern und ihren politischen Hintermännern“ kurzerhand den Garaus. Dies und manch anderes mag zu dem politischen Metier gehören und unter anderen Umständen vielleicht seine Erklärung in eingebürgerten schlechten Usancen finden.

Aber sind diese Übungen noch verständlich, noch zu rechtfertigen, noch zu verantworten in einer Lage, in der fast jeder Tag Illustrationen liefert, daß nicht nur die Sicherheit und persönliche Freiheit des einzelnen durch eine außerhalb unseres Gesetzes stehende Macht, sondern überhaupt die Wesenheiten des Rechtsstaates durch die sich wiederholenden Eingriffe in Verwaltung, Wirtschaft und Rechtsleben in Frage gestellt' erscheinen? Hut ab vor den 250 Atzgersdor-fer Arbeitern, die in einem USIA-Betrieb sich wie ein Mann erhoben, als sie ihren Vormann und in ihm ihre eigene Freiheit von einer widergesetzlichen Gefahr bedroht sahen und ein Zeugnis dafür gaben, was Verstehen der Schicksalsgemeinschaft und mutiges Stehen zu ihr heißt.

Wir besitzen in unserer Lage nichts zum Schutze unserer staatlichen und persönlichen Grundrechte als unsere Solidarität Und die Geschlossenheit der staatsbewußten Kräfte. Aus der Erkenntnis dieser existentiellen Notwendigkeiten entstand das Arbeitsbündnis der beiden großen Parteien und nicht aus taktischen Bedürfnissen und nicht aus der Berechnung, damit den parlamentärischen Apparat bequemer handhaben zu können. In der Zersplitterung hätte Österreich das Jahr 1950 nicht in Freiheit erlebt.

Die Bürgschaften unserer staatlichen Ordnung und Sicherheit, die vor sechs • Jahren richtig ermessen wurden, gelten auch heute noch. Das soll nicht heißen, daß nicht manches besser zu wünschen gewesen wäre. Manche Erwartung wurde nicht erfüllt, die Verständigung über Angelegenheiten von programmatischem Gewicht ist ausgeblieben. Es soll nie vergessen werden: Die Koalition ist nicht eine simple Proporzformel, ein Machtverteilungsschlüssel, ein seelenloses knöchernes Gehäuse — sie findet ihre Sinnerfüllung in der inneren Haltung der Partner zueinander, in dem guten Willen zum Verstehen des anderen, in der bedingungslosen Achtung vor seiner sittlichen Uberzeugung. Nicht immer sind der Bevölkerung die Lebenselemente eines echten Koalitionsverhältnisses praktisch und beweiskräftig dargetan worden.

Vielleicht ist daraus das nervöse Hinhorchen auf Begebenheiten in näherer oder fernerer Nachbarschaft zu erklären und die mißtrauische • Deutung, die man in politischen Diskussionen vernehmen kann, zum Beispiel, wenn da und dort „Unabhängige“ in die Nähe von Volksparteigruppen geraten und sogar Rechenexempel für eine Stichwahl zur Bundespräsidentsfrhaft aufgestellt werden, in der man einer sich heute um die Kandidatur des Professors Breitner eindeutig ralliierenden Partei eine besondere Rolle für künftige Eventualitäten zumessen möchte. Aber diese Berechnungen sind falsch. In zu deutlicher Erinnerung ist noch jene zwanzig Jahre zurückliegende Zeit, da eine Handvoll Land-bündler und „Völkischer“ als „Zünglein an der Waage“ einen demoralisierenden Zwitterzustand herbeiführte, der Parlamentarismus und Demokratie in ihrer

Wurzel angriff. Es ist nichts mit dem „Zünglein an der Waage“. Nur der Gedanke an eine zweite Auflage flößt Widerwillen und Protest ein.

Nein, das Erfordernis der staatlichen Ordnung und Sicherheit eines Landes, das 1945 an die großen Parteien unseres Landes herantrat, hat sich nicht geändert. Es wird auch nach der Bundespräsidentenwahl fortbestehen. Erfüllen wir sein Gebot mit neuem Leben und neuer Kraft! ,

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