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Kritik von außen

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Der Untertitel dieser Arbeit „Große Koalition oder alternierende Regierung“ täuscht über das Buch hinweg. Es liegt zunächst keine Überprüfung oder Abwägung zwischen dem System der großen Koalition und der alternierenden Regierung vor. Naßmacher geht von den Fakten aus und versucht nach dem Ende der Koalition 1966 aus deutscher Sicht die österreichische Konstellation zu bewältigen. Für ihn gibt es drei mögliche Qualifizierungen der Koalition:

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Der Untertitel dieser Arbeit „Große Koalition oder alternierende Regierung“ täuscht über das Buch hinweg. Es liegt zunächst keine Überprüfung oder Abwägung zwischen dem System der großen Koalition und der alternierenden Regierung vor. Naßmacher geht von den Fakten aus und versucht nach dem Ende der Koalition 1966 aus deutscher Sicht die österreichische Konstellation zu bewältigen. Für ihn gibt es drei mögliche Qualifizierungen der Koalition:

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1. Als Abweichung vom parlamentarischen System;

2. als spezifisch österreichisches Regierungssystem;

3. als Regierungssystem der industriellen Massendemokratie.

Er ist zumindestens bei der 2. Fragestellung Österreich erlegen. Na3-macher scheint sich längere Zeit auch literarisch mit Österreich befaßt zu haben, sonst könnte er nicht aus der Mentalität der Bewohner dieses Landes so direkt auf ihr Reglerungssystem schließen wollen. Auch die hier genannten literarischen Hinweise genügen nicht, die Koalition als österreichische Erfindung abzustempeln. Von sozialistischer Seite ist es in einer Rezension Naßmacher vorgeworfen worden, daß seine Qualifikation der Koalition zu sehr ÖVP-orientiert sei; wer allerdings seine Argumentation zur Koalition als Regierungssystem der industriellen Massendemokratie untersucht, muß feststellen, daß sich Naßmacher hier nahe den Überlegungen zum Wiener Programm der SPÖ 1958 befindet, die ebenso für gro3e politische Gruppen die Teilnahme an der Regierung für sinnvoller ansehen als die Opposition.

In einer Zusammenstellung historischer Fakten und Daten gibt Naß-macher einen informativen Überblick über die Verfassungsnormen und das österreichische Parteiensystem, ebenso über die Arbeitsweise des österreichischen Regierungssystems seit 1918. Die Zusammenstellung ist sehr nützlich und nach dem Wissen des Rezensenten bisher in Österreich in dieser Art noch nicht gegeben:-wordto; txm *ffc'i -

Interessant aber werden die Ausführungen des Autors im dritten Teil, nämlich in den dort aufgezeigten verfassungspolitischen Entwicklungsmöglichkeiten. Zunächst untersucht Naßmacher die Möglichkeit der Übertragung des Schweizer Direktorialsystems auf Österreich. Der in der Schweiz von der Verfassung zwar nicht vorgesehene, aber praktizierte Proporz in der Regierung ist in der Diskussion vor 1966 des öfteren als eine Möglichkeit der verfassungsrechtlichen Bewältigung der österreichischen innenpolitischen Situation genannt worden. Die wichtigsten Voraussetzungen einer solchen Veränderung der Verfassung wäre zwar eine Anpassung an die Praxis der Landesregierungen, erscheint

aber doch bei näherer Untersuchung auf Bundesebene problematisch. Zunächst muß damit gerechnet werden, daß die Chance auf Kontrolle völlig wegfällt, da die Schweizer Übung des immer wieder gehandhabten Referendums bei uns nicht ohne weiteren durchführbar wäre. Außerdem ist bei uns die Verankerung der Parteien in der Verwaltung und in den Verbänden weitaus stärker gediehen als in unserem westlichen Nachbarland. Naßmacher spricht daher vielmehr der Übernahme des englischen Systems das Wort. Seiner Ansicht nach garantiert nur die Mehrheitswahl ein funktionsfähiges Reglerungssystem. Naßmacher legt einige Durchrechnungen vor, die bei näherer Untersuchung sogar eine grö3ere Chance der SPÖ ergeben, auf der Basis der bisher seit 1945 erzielten Wahlergebnisse auf Bundesebene die Mehrheit zu erhalten. Um so mehr sind die Argumente aus dem sozialistischen Lager gegen diese Wahlrechtsänderung unverständlich. Die damit verbundene Einführung von Einerwahlkreisen würde einem in der letzten Zeit stark diskutierten Problem steuern, nämlich der Kandidatenauslese. Ebenso wird der innerparteilichen Integration gedient, wobei verschiedene Verknöcherungs-erscheinungen unseres Parteisystems auf diese Weise behoben werden können. Unter diesen Annahmen untersucht Naßmacher weiters die Wahlrechtsdiskussion 1963/64. die in ersten Ansätzen Überlegungen zu einer Person alisierung des Wahlrechtes gebracht hat. Die inzwischen von führenden wziah'stteehen Abgeordneten vorgelegten Vorschläge für eine WaWrechtsMnderung nehmen zwar den Gedanken der Einerwahlkreise wieder auf, bringen aber keinerlei Garantie einer regierungsfähigen Mehrheitsbildung mit sich, da das reine Verhältniswahlredht auf Bundesebene durchgezogen wird. Angesichts der sich abzeichnenden Polarisierung in den europäischen Demokratien, die sicher auch vor Österreich nicht haltmachen wird, wäre zweifellos einer jeweils handlungsfähigen Regierungsmehrheit das Wort zu reden. Die latente und unartikulierte Unzufriedenheit des Staatsbürgers mit den Staatseinrichtungen, die mangelnde Transparenz und der Zweifel an einer funktionierenden Kontrolle führen dazu, daß nach der Wahl 1970 die Diskussion

um die Demokratiereform insbesondere im Bereich des Wahlrechtes schleunigst aufgenommen werden muß. Das Buch von Naßmacher ist eine wichtige Unterlage und eine erste Durchrechnung verschiedener wesentlicher Möglichkeiten. Als Anerkennung für den Autor und als innerösterreichische Kritik muß angemerkt werden, daß leider an keiner österreichischen Hochschule die Anregung für ein ähnliches Werk gegeben wurde. Sollte dem nicht so sein, erhebt sich die Frage, warum niemand bis jetzt nach einer solchen Untersuchung verlangt hat.

DAS ÖSTERREICHISCHE REGIERUNGSSYSTEM. Große Koalition oder alternierende Regierung? Von Karl Heinz Naßmacher, Westdeutscher Verlag Köln und Opladen, 1968, 230 Seiten, DM 21.—.

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