Das System Familie und ein möbliertes Kellerloch

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Das Landestheater St. Pölten zeigt eine dramatisierte Version von Franz Nabls Roman "Die Ortliebschen Frauen" - ein Stück beklemmender Aktualität.

Aufgefädelt wie die Spatzen sitzen "Die Ortliebschen Frauen" auf ihrem Sofa und blicken starr ins Publikum. Wie der am Flügel verletzte Vogel, den die Familie zu Beginn in ihre Obhut nimmt, so sind auch sie vollends voneinander abhängig. Knapp formuliert ist das der Plot von Franz Nabls Roman, den Helmut Peschina als Auftragswerk des Landestheaters Niederösterreich dramatisiert hat. Das Thema "System Familie" ist überzeitlich interessant und virulent, wie auch die aktuellen Ereignisse zeigen.

Als deklariert "unpolitischer" Autor wird Franz Nabl (1883-1974) heute gerne ausschließlich im Dunstkreis der von den Nazis geförderten Dichter eingereiht, der es auch in der Nachkriegszeit kaum geschafft hat, sich vom NS-Regime zu distanzieren. Bis heute gilt sein 1911 erstmals erschienener Roman "Ödhof" als sein bekanntestes Werk, das von den Nationalsozialisten vereinnahmt wurde. Der Protagonist Johannes Arlet bot hier die Folie zur Identifikation mit dem "deutschen Willensmenschen". Wenige Jahre später, 1917, mitten in den Wirren des Ersten Weltkriegs, wurde Nabls zweiter Roman "Das Grab des Lebendigen" veröffentlicht, der 1936 in "Die Ortliebschen Frauen" umbenannt wurde. Nabls Geschichte der Familie Ortlieb fügt sich in die Tradition des Wiener Volkstheaters eines Ludwig Anzengruber bzw. in den naturalistischen Stil eines Gerhart Hauptmann, worin die Familie jeweils das Kernthema bildet.

In Nabls düsterer Studie stirbt der Vater, ein kaltherziger Beamter, und hinterlässt drei Kinder. Ein chorisches "Gott hab' ihn selig" murmelt der Familienrest wie ein Mantra, wenn vom fehlenden Oberhaupt die Rede ist. Die Mutter (Gabriele Schuchter) ist nicht nur schwer herzkrank, sondern vor allem auch mit der Erziehung der drei Kinder überfordert. Da sind weder Verständnis noch Liebe, weder Förderung noch Führung. Diese Lücke erkennt die älteste Tochter Josefine (Chris Pichler) und versucht, die beiden jüngeren Geschwister nach allen Regeln enger bürgerlicher Moral zu erziehen.

Das "bedrohliche Fremde"

Chris Pichlers Josefine ist nicht nur eine kleingeistige junge Frau; sie zeigt diesen Charakter als pathologischen Fall, der von der ersten Szene an ausschließlich so von ihr angelegt ist. Als sich etwa die Schwester Anna (Charlott von Blumencron), die die Fürsorge für den kranken Vogel übernommen hat, in den Tierhändler Adam Nikolai (Klaus Haberl) verliebt, da zerschlägt Josefine deren Heiratspläne - aus angeblicher Loyalität zur Mutter und Fürsorge für den jüngeren Bruder Walter (Hendrik Winkler).

Auch dieser - der seit Geburt einen Klumpfuß hat - emanzipiert sich zusehends von den Frauen der Familie und beginnt selbstständig Freundschaften zu knüpfen. Spiralenförmig dreht sich damit die familiäre Enge zu, bis die machtgierige, verzweifelte Josefine beschließt, die Familie jeglichen Außeneinflüssen zu entziehen. Stets spricht sie vom bedrohlichen "Fremden", das es auszugrenzen gilt. Die Flucht in ein kleines Landhäuschen scheint vorerst eine häusliche Idylle zu etablieren. Doch schon bald dringen Gerüchte in das "System Ortlieb", die von einer Bekanntschaft Walters mit einem Fräulein erzählen.

Pathologie und Inhumanität sowie feiges Zusehen der Außenwelt machen etwas möglich, das zurzeit auch zentrales Thema in den österreichischen Medien ist: Josefine schließt den Bruder "zu seinem eigenen Schutz" in ein möbliertes Kellerloch, Mutter und Schwester, die ausschließlich ein von Josefines Willkür abhängiges Leben kennen, werden zu ihren Komplizinnen.

Da macht es tatsächlich tief beklommen, dass der "Fall F." mit dem 1917 erschienenen Roman in vielen Punkten übereinstimmt, auch wenn Autor Peschina in seiner Dramatisierung den Fall allgemein hält und diese Assoziationen keineswegs betont. Seine Bearbeitung konzentriert sich vielmehr auf den Charakter der Figuren, die er fein nuanciert und somit jeglicher Gefahr von klischeehafter Deutung enthebt. Bei ihm entlarvt sich der Konflikt über die Dialoge der Figuren, deren verknappte Sprache mehr ausdrückt, als eine eloquente Rhetorik es könnte. Seine Figuren sind differenziert zwischen innerer Einsamkeit und Angst, die diese allerdings weder vermitteln noch reflektieren können. Bei Peschina sind die Figuren nie ausschließlich Täter oder Opfer, sondern vielschichtige Charaktere.

Unmöglichkeit der Beziehung

Intendantin Isabella Suppanz hat selbst die Regie übernommen und orientiert sich an Peschinas Fokus auf die Beziehungen. Damit hat sie eine gute Entscheidung getroffen, da sie sich auf keine trivialen Zuschreibungen einlässt, sondern die Sprachlosigkeit dieses Mikrokosmos betont. Das gelingt besonders berührend in den Szenen zwischen Anna und Nikolai, wenn die beiden vor der kahlen Mauer der Tierhandlung sich einander zart annähern. Hier entsteht eine Horváth'sche Qualität, wo sich in der Stille der Begegnung die Beziehung - und zugleich ihre Unmöglichkeit - quasi von selbst erzählt. Diese zarten Bande, die nach Außen geknüpft werden, stehen konträr zu den grausamen inzestuösen unter den Geschwistern.

Die Inszenierung konzentriert sich - in einem trockenen Spielstil - auf die Frage nach pathologischen Entwicklungen. Bühne und Kostüme (Martin Warth) bieten hier nur knappe Anhaltspunkte. Die gut eingesetzte Drehbühne macht schnelle Szenenwechsel möglich, die von der Bewegung der Außenwelt unweigerlich immer wieder auf das enge Sofa der Familie zurückführen.

Nabls psychologische Studie interessiert in der klug verknappten Bearbeitung von Peschina zwar überzeitlich, doch bisweilen ist der Verlauf der Geschichte allzu linear. Dort, wo die Geschichte neue Perspektiven eröffnet, überzeugen vor allem die schauspielerischen Leistungen von Charlott von Blumencron und Klaus Haberl, die ihren Figuren Tiefe verleihen. Vor allem Blumencron gelingen schöne Momente zwischen Aufbruch, Scham und Resignation. Mit dieser Arbeit zeigt St. Pölten aber auch, wie Theater ungeachtet aktueller Medienspektakel neue Denk- und Reflexionsräume eröffnen kann.

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