Peter Sloterdijk - © APA/dpa/Georg Wendt

Peter Sloterdijk: Die Herrschaft der Hyperbel

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Peter Sloterdijk zum 60. Geburtstag.

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Peter Sloterdijk zum 60. Geburtstag.

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Auf die Frage, was er denn eigentlich sei, pflegt Peter Sloterdijk kurzerhand zu antworten: "ein philosophierender Schriftsteller". Folglich liegt es nahe, die intellektuelle Physiognomie von Peter Sloterdijk durch den Bezug auf einen Schriftsteller zu detaillieren wobei zu zeigen sein wird, wie die Hierarchieverhältnisse zwischen den Polen Begriff und Erzählung beschaffen sind. In Thomas Bernhards zuletzt publiziertem Roman philosophiert der Protagonist:

Kein Mensch hat seine Übertreibungskunst jemals so auf die Spitze getrieben, … daß ich, wenn man mich kurzerhand einmal fragen wollte, was ich denn eigentlich und insgeheim sei, doch darauf nur antworten könne, der größte Übertreibungskünstler, der mir bekannt ist. … Der Maler, der nicht übertreibt, ist ein schlechter Maler, der Musiker, der nicht übertreibt, ist ein schlechter Musiker, sagte ich zu Gambetti, wie der Schriftsteller, der nicht übertreibt, ein schlechter Schriftsteller ist, wobei es ja auch vorkommen kann, daß die eigentliche Übertreibungskunst darin besteht, alles zu untertreiben, dann müssen wir sagen, er übertreibt die Untertreibung und macht die übertriebene Untertreibung zu seiner Übertreibungskunst.

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Diese halb ernst, halb lachend von Thomas Bernhards Romanfigur Franz-Josef Murau vorgetragenen Reflexionen über Kunst sind der ideale Schlüssel, um zentrale Aspekte von Peter Sloterdijks Werk aufzudecken.

Übertreibungskunst

Es kennzeichnet den Gestus des Sloterdijkschen Philosophierens, die für ihn elementare Rolle der Übertreibung nicht anlässlich einer Selbstexplikation zu erörtern, sondern in der Auseinandersetzung mit zwei Kollegen.

Für ihn tritt das Geheimnis von Theodor W. Adornos Haltung, in der sich gnostische und kritische Momente einerseits mit messianischen und metaphysischen andererseits mischen, nur dann zu Tage, wenn man den Ursprung dieser Einstellungen zur Welt aus einer zentralen rhetorischen Figur hervorhebt: der Übertreibung bzw. der Hyperbel. Da die genannten Strömungen das ausmachen, was als europäisches Denken gelten kann, ist die Schlussfolgerung erlaubt, für Peter Sloterdijk gründe Philosophie generell in Rhetorik und damit in literarischen Verfahrensweisen.

Hier scheint der eigentliche Anfang der Philosophie noch einmal deutlich auf: Er liegt im Wettbewerb um das Schwernehmen der Begründung von Meinungen und infolgedessen in der sporthaften Übertreibung des Staunens. … Aus dem Wettkampf des Staunens entwickelt sich die Übertreibung des Fragens, das sich seit Sokrates potentiell in jedes Leben einmischt und seit Platon alle Behauptungen in Probleme umformuliert.

Also gilt: "Vor der Meta-Physik steht die Ultra-Rhetorik."

Einübung in Skepsis

Philosophia perennis heißt demnach nicht, ständig das System zur Durchdringung und Feststellung dessen, was als Wirklichkeit, Wahrheit, Vernunft oder Freiheit gelten soll, zu überprüfen und zu verfeinern. Sie progrediert vielmehr, indem sie an die Stelle einer Hyperbel eine andere setzt. Selbst die kritischen Theorien von Karl Marx bis Theodor W. Adorno können in Anbetracht der literarischen Wurzeln aller philosophischen Anstrengungen also nicht mehr anstreben als die Einübung in Skepsis, und zwar dadurch, dass sie die kursierenden Großhyperbeln in einen Kampf mit den kleinen, nicht zu leugnenden Details der kruden Realität verwickeln und dabei der Lächerlichkeit preisgeben. Ihr modus operandi besteht demnach in der Untertreibung. Punktet diese Untertreibung ihrerseits durch Übertreibung - dann sind Dekonstruktivisten am Werk.

Peter Sloterdijk erklärt den Hyperbelcharakter zum Grundmotiv seines Denkens: Es ist ihm darum zu tun, eine Übertreibungskritik zu explizieren, welche alle bisherigen Hyperbeln hinter sich lässt. Eine solche Kritik wird nicht mehr herabsetzend oder dekonstruktiv gegen die Gebilde vorgehen; sie nimmt sich, ohne sie abzuleiten, die Freiheit, Steigerungen des Lebens zu applaudieren, grundlos. … Dies entzieht der Skepsis nichts von ihrer zivilisierenden Kraft. Aber anders als der Kritizismus, der an Herabsetzungen interessiert bleibt, hegt die Skepsis Sympathien für Übertreibungen aller Art, im Bewußtsein, ihnen nicht zu erliegen. Die Voraussetzung hierfür schafft der freie Geist, der zur Verführung Abstand hält. Frei ist der Geist, seit er die metaphysische Hyperbel schlechthin, die Logos-Übertreibung, aufgelöst hat.

Begriff und Erzählung

Ein Philosophieren, das sich des rhetorischen Modus seiner Bewegung vergewissert hat, wird jede denkbare sprachliche Nuance auf ihre Implikationen und Voraussetzungen befragen. Dieses Prozedere als bloße literarische Kompetenz gegenüber Begriffsarbeit abzuwerten, unterschätzt, was auf dem Spiel steht: Allein durch eine besondere Redefigur (und deren Ausfaltung zu großen Erzählungen, wie sie sich in der Sphären-Trilogie, veröffentlicht zwischen 1998 und 2004, findet) kann eine Hyperbel, die sich als Hyperbelkritik entfalten muss, Geltung erlangen. Der anhand dieser Kritik gewonnene freie Geist erlaubt dann neue Blicke auf vergangene Jahrtausende, unbekannte Beziehungen zwischen ihnen, rückt Bekanntes in die Ferne und kehrt geltende Begründungen um handele es sich um den Raum zwischen oder um die einzelnen, um die Globalisierung oder um den Zorn.

Damit ist immer noch nicht das ganze Geheimnis von Peter Sloterdijks Einsatz ausgeplaudert. Denn Thomas Bernhards Reflexionen verweisen auf eine zusätzliche Komponente: auf die Ironie. "eironeia", aus dem das Wort "Ironie" sich herleitet, bezeichnet im planen Sinn die Verstellung von Realien oder Ideen, ist folglich angemessen zu übersetzen allein durch "Übertreibung und Untertreibung". Als rhetorische Figur verfügt sie über eine lange Tradition. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts taucht bei Friedrich Schlegel eine neue Form der Ironie auf:

Die romantische Ironie kann am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realem und idealem Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer Reihe von Spiegelungen vervielfachen.

Schlegel überbietet die direkte Ironie durch eine zweite Ironie, das ironische Bewusstsein.

Kybernetische Ironie

In Niklas Luhmann dechiffriert Peter Sloterdijk den ersten Praktiker eines neuen, eines dritten Ironietyps, der kybernetischen Ironie. … sie bereitet dem Subjekt der romantischen Ironie, dem zwischen seinen Setzungen und Aufhebungen schwebenden Subjekt, ein subversives Schicksal, indem sie ihm zumutet, sich selbst als Epiphänomen in einem System aus Systemen zu verstehen, viel zu komplex und eigensinnig, um von einem Subjekt gesetzt oder aufgehoben zu werden.

Während sich in der romantischen Ironie das Subjekt als Subjekt erkennt, indem es sich als jenes erfährt, das das Vermögen besitzt, Setzungen vorzunehmen und wieder rückgängig zu machen, bringt die kybernetische Ironie das Subjekt zum Verschwinden, um es als stets erneut verlöschende Funktion von Systemen wiederaufleben zu lassen. Die Anerkennung eines solchen ironischen Bewusstseins der dritten Stufe hat theorieimmanente wie gesellschaftliche Konsequenzen.

Theorietreiben auf der Stufe der dritten Ironie muß eine Neigung zum Desengagement von fixen Meinungspositionen fördern … Kaum nötig zu sagen, daß eine solche Haltung, ließe sie sich generalisieren, einen zivilisierenden Effekt hervorriefe, da sie unweigerlich entfanatisierend wirkt und Höflichkeit verstärkt.

Hyperbelkritik

Ein Philosophieren als Hyperbelkritik in der Haltung kybernetischer Ironie nimmt die unterschiedlichsten performativen Gestalten an, unter anderem 2500-seitige Raumtheorien (Sphären), Vorträge in Seoul und in Paris, das Spielen philosophischer Quartette. In ihm haben nicht mehr ausschließlich die Sprechakte der Behauptung oder Verneinung ihren Platz, sondern das ganze Repertoire von Fragen über Bericht, Erzählung und Parodie bis hin zu Versprechen.

Doch selbst mit einer solchen Beobachtung sind noch immer nicht die letzten Dinge von Peter Sloterdijks Denken sichtbar gemacht. Um sie ins Licht zu rücken, ist erneut auf die Übersteigerung, die Hyperbel, zurückzukommen. Für Quintillian, den Gründervater der kanonischen Rhetorik, konnte die Hyperbel Geltung nur beanspruchen, wenn sie als eine "schickliche Übersteigerung des Wahren" durchgehen konnte.

Worin besteht für Peter Sloterdijk "das Wahre"? Es besteht darin, der Zeit, der Gegenwart die richtige Diagnose zu stellen (was die präzise Rekonstruktion der Vorgeschichte der Zeitkrankheit voraussetzt). Das belegen alle seine Bücher.

Beispiel Kritik der zynischen Vernunft aus dem Jahre 1981: Als nach den letzten Ausläufern der Studentenbewegung Ende der siebziger Jahre Konservatismus und Postmoderne die Aufklärung auf die Anklagebank setzten, diagnostizierte Sloterdijk das Auftauchen einer eigentümlichen Haltung unter den ehemals engagierten Aufklärern: der zynischen Vernunft.

Sapere aude! bleibt der Wahlspruch einer Aufklärung, die auch im Zwielicht modernster Gefahren der Einschüchterung durchs Katastrophale widersteht. Nur aus ihrem Mut kann sich noch eine Zukunft entwickeln, die mehr wäre als die erweiterte Reproduktion der schlimmsten Vergangenheit.

Beispiel Sphären-Trilogie, deren letzter Band 2004 erschien: Als zu Beginn der neunziger Jahre die einen die neue Individualität als Anbruch des Glückszeitalters innerhalb der Risikogesellschaft feierten, andere sie als den Beginn des Endes von Gesellschaft verteufelten, verwies Sloterdijk auf die falschen Voraussetzungen der gegnerischen Parteien: Beide nehmen ein isoliertes Einzelwesen an, dem sie dann, als Akzidenz, das Gegenüber und die Gegenüber in der Gesellschaft hinzufügen. Die Bände Blasen, Globen und Schäume erzählen: Wer von dem und den Menschen reden will, muss über Sphären reden, über Räume, die die Menschen um sich errichten und die sie in je besonderer Weise bewohnen. In ihnen ist der Einzelne immer schon auf den anderen hin angelegt, er befindet sich in Verhältnissen mit anderen. Was ist jedoch zu tun im 21. Jahrhundert, wenn sich durch die Globalisierung und Weltrisiken die Solidaritätsräume aufzulösen beginnen?

Neue Solidaritätsräume

Die antipolitische Skepsis in Ost und West … enthält den Kern einer Einsicht, mit der die Neuprojektion von Solidaritätsräumen beginnen muss. Zu jedem solcher Räume gehört eine Grundlegung - besser eine Aufhängung - durch ein sich selber wahrmachendes Klimaversprechen. Aufklärung beginnt mit Aufklaren … Wie jedes geteilte Leben ist Politik die Kunst des atmosphärisch Möglichen.

Beispiel: Im Weltinnenraum des Kapitals aus dem Jahre 2005: Als die Globalisierung die letzten Erdwinkel (und letzten soziologischen und philosophischen Seminare) erreicht hatte, kondensierte Sloterdijk deren letztes Stadium in der Figur des Kristallpalastes:

Die Tugend dieses Bildes besteht unter anderem darin, daß es von vorneherein die Innen-Außen-Unterscheidung hervorhebt. Es betont damit die notwendige und unvermeidliche Exklusivität des sogenannten Globalisierungsgeschehens. … Der Kristallpalast ist das gemeinsame Haus der Kaufkraft: Ein Gebäude mit unsichtbaren, doch von außen nahezu unüberwindlichen Wänden, das etwa anderthalb Milliarden Menschen oder etwas mehr beherbergt sagen wir der Einfachheit halber die Gruppe der Globalisierungsgewinner."

Alle Formen des Zorns

Beispiel: Zorn und Zeit. Ein politisch-psychologischer Versuch aus dem Jahr 2006: Angesichts von Selbstmordattentätern als neuen Akteuren der Weltpolitik stellte Peter Sloterdijk die Frage: "Kann der politische Islam eine neue Weltbank der Dissidenz einrichten?"

Und Thomas Bernhard hatte 1975 geschrieben: "Eine größere Studie müßte sich mit allen möglichen Formen des Zorns befassen: mit dem ökonomischen, mit dem philosophischen usw., die sämtliche (in erster Linie) psychische sowie (in zweiter Linie) physische sind."

Der Autor ist Cheflektor des Suhrkamp Verlags und betreut das Werk von Peter Sloterdijk.

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