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DIE LEHRE VON DER HARMONIE

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Schon vor Jahrzehnten war es großen Gelehrten und insbesondere führenden Naturwissenschaftlern klar, daß eine materialistische Weltinterpretation jede Chance der Beweisbarkeit verloren hatte, und insbesondere das stetig weitere Vordringen ins Innere des Atoms führte zur Gewißheit, daß geistige Gesetze dort dominieren. Damit wurde zugleich deutlich, daß mathematisch-logische Zusammenhänge, wie sie eigentlich doch nur dem menschlichen Gehirn entstammen könnten, auch in der „objektiven“ Natur herrschen, daß mithin das, was man bisher unter „geistig“ verstand, etwas sehr viel Allgemeineres, Umfassenderes sein muß, als man zuvor angenommen hatte. Solche Erkenntnisse wurden freilich noch nicht so schnell Allgemeingut, und erst jetzt scheint die Zeit gekommen zu sein, wo man auf Grund der durch die Wissenschaften längst geschaffenen Tatsachen eine allgemeine Neuordnung unseres Weltbildes anstrebt und sucht. Das starke Interesse an den Werken Teilhard de Chardins oder die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Astrologie dürften Anzeichen dieser beginnenden Neuorientierung sein.

In diesem Zusammenhang wird vielleicht auch einer noch nicht so bekannten Lehre Beachtung geschenkt werden, die .man etwas populär als die Lehre vom „Klang der Welt“ bezeichnet hat und die den wissenschaftlichen Namen „Kaysersche Harmonik“ trägt. Sie wurde so nach ihrem Begründer Hans Kayser (1891 bis 1964) genannt, doch ist sie im Grunde genommen uralt und geht auf Pythagoras zurück, kommt aber auch im alten China in ganz ähnlicher Weise vor. Freilich handelt es sich hierbei nicht um jene mehr oder minder abstrusen Dinge, die man in jeder Philosophiegeschichte über den Pythagoreismus nachlesen kann, sondern um eine Rekonstruktion jener Bestandteile der Lehren des Pythagoras, die damals nur für Esoteriker bestimmt waren; denn der Pythagoreismus war eine Gehewnlehre ähnlich anderen antiken Mysterienreligionen und belegte Geheimnisverrat mit strengen Strafen, sogar mit der Todesstrafe, wie wir wissen.

Es ist hier nicht der Ort, sich über den historischen Pythagoreismus zu verbreiten, auch kann die interessante Geschichte seiner Neubelebung nicht in Einzelheiten geschildert werden; es sei nur angedeutet, daß Kayser auf dem umfassenden Werk „Die hormonikale Symbolik des Alterthums“ von Albert von Thimus (1806 bis 1878) aufbaut und auf — Johannes Kepler (1571 bis 1630). Kepler war nämlich durchaus nicht primär Naturwissenschaftler, wie auch heute noch nicht allgemein bekannt ist, vielmehr strebte er zeitlebens nach dem Beweis der Weltenharmonie und machte auf diesem Wege seine berühmten Entdeckungen. Sein Hauptwerk heißt daher „Harmonioes mundi libri V“ (Die fünf Bücher von der Weltenharmonie), und von diesem Titel her hat Kayser auch den Begriff „Harmonik“ für sein Lebenswerk genommen. Es will also die Bezeichnung „Kaysersche Harmonik“ nichts anderes heißen als „Weltenharmonie“.

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Diese Lehre, die mithin im großen und ganzen für Pythagoras, Kepler und Kayser gleichermaßen gilt, hat verschiedene charakteristische Grundlagen, die bisher in der abendländischen Geistesgeschichte vernachlässigt oder verkannt wurden, die insbesondere das naturwissenschaftliche Denken nicht oder zumindest nicht systematisch verwendet und die dadurch für die Gegenwart tatsächlich als etwas Neues erscheinen. Da wäre zuerst die Verwendung der Kategorien des Gehörs im Mittelpunkt der Harmonik zu nennen, die gänzlich neu ist, da die Naturwissenschaften sich bekanntlich überwiegend der Möglichkeiten des Auges und des Tastsinnes (und deren technischer Erweiterungen) bedienen. Was aber heißt das?

Wir wissen von der Schulbank her, daß Zahlen und Töne miteinander zusammenhängen, und wir haben vielleicht sogar im Physikunterricht Bekanntschaft mit einem Monochord gemacht, mit dessen Hilfe man das sehr leicht vorführen kann. Dieses Monochord benutzten die Pythagoreer schon — Pythagoras soll es erfunden haben — und heute steht es wieder im Mittelpunkt der modernen Harmonik (auch Kepler verwendete es). Das Monochord ist ein langgestreckter Resonanzkasten mit ebener Oberfläche, über den eine Saite gespannt ist, und unter dieser Saite kann man einen Steg hin- und herschieben. Bringt man nun auf der Oberseite des Monochords einen Maßstab an, so kann man leicht ermitteln, daß die bekannten Intervalle der Musik immer dann zustande kommen, wenn Saitenabschnitte in meist sehr einfachen ganzzahligen Verhältnissen zueinander stehen. Das Ergebnis sieht so aus:

Wir erkennen also, daß Zahlen und Töne, Proportionen und Intervalle gesetzmäßig verknüpft sind, oder allgemeiner: daß mathematisch-intellektuell erfaßbare Quantitäten und psychisch erlebbare Werte untrennbar verbunden sind.

Daraus ergeben sich einige Folgerungen. Zunächst eine sehr bekannte: Sinneseindrücke lassen sich als mathematische Größen darstellen; das ist der wichtigste Ansatz des naturwissenschaftlichen Denkens, da er allgemein gilt, und es ist heute unbestritten, daß die naturwissenschaftliche Methode im Prinzip auf Pythagoras zurückgeht. Neu hingegen ist die Entdeckung Hans Kaysers, daß sich diese Beziehung umkehren läßt, das aber heißt, daß wir Quantitäten als Qualitäten auffassen können, oder mit anderen Worten: wir können Zahlen seelisch erleben. Kayser hat diesem Begriff der psychisch erfaßbaren Zahl den Namen „Tonzahl“ gegeben, und diese Tonzahlen bilden eine der wesentlichen Grundlagen der Harmonik.

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Bevor wir erfahren, wie dieser Ansatz ausgebaut wird, müssen wir jedoch noch einige weitere Folgerungen aus unserem gedachten Monochordexperiment ziehen. Wenn wir an einem solchen Monochord den Steg unter die Mitte der Saite stellen, müssen beide Hälften den gleichen Ton ergeben (1:1 Prime); verrücken wir nun den Steg um eine Kleinigkeit, so wird die Prime, wie jeder weiß, verstimmt, und man kann nun ohne hinzusehen den Steg so lange zurückschieben, bis das Ohr hört, die Prime stimmt jetzt wieder. Das scheint sehr simpel zu sein, doch vollzieht sich da Wichtiges. Erstens einmal wird klar, daß unser Ohr ein Meßinstrument ist; denn nichts anderes geschieht doch, wenn wir die Prime als „stimmend“ bezeichnen, als daß unser Gehör unbewußt gemessen hat, daß der Steg jetzt in der Mitte der Saite steht! Zweitens aber wird jeder verblüfft sein, wenn er feststellt, wie genau unser Ohr messen kann; bei einem Monochord von 120 cm Länge beträgt die Meßgenauigkeit 1 bis 2 mm, und das vermag beim Streckenvergleich weder unser Auge mit dem so vielgerühmten „Augenmaß“ zu leisten noch der Tastsinn.

Dazu kommt ein weiterer Vorzug des Gehörs, die Tatsache nämlich, daß man nur hörend Intervalle bilden kann. Genauer gesagt: daß nur das Gehör die Möglichkeit hat, zwei verschiedene Töne zu einer Einheit höherer Ordnung zu verschmelzen und diese Einheit auch unabhängig von diesen Tönen wiederzuerkennen (zu transponieren, wie der Musiker sagt). Dieses Verschmelzen zweier Werte (oder mehrerer im Akkord) ist mit Farben nicht möglich, wodurch die besondere Eigenart des Gehörs erneut deutlich wird.

Ein weiteres Merkmal des musikalischen Gehörs ist, daß seine Eindrücke nicht im Bewußtsein des Menschen aufgenommen, sondern in unbewußten Schichten empfangen und dort sofort qualitativ vernommen werden. Was das heißt, muß verdeutlicht werden; denn es ist von entscheidender Wichtigkeit. Wir sind ja alle von der frühesten Schulzeit an das Rechnen gewöhnt. Wir lernen das Einmaleins, und das Leben auch des mathematisch Unbegabtesten ist von einfachen Rechenoperationen nicht zu trennen. Jeder von uns weiß, was Rechnen ist, und wird daher den Naturwissenschaftlern gern ihre Forschungen glauben, auch wenn er sie längst nicht mehr mitvollziehen kann. Das ist aber bei den akustisch-musikalischen Gesetzen ganz anders. Deren Zahlengrundlagen kommen im Unbewußten bei uns an, auch jene geschilderte Meßgenauigkeit des Gehörs vollzieht sich gleichsam automatisch, und normalerweise werden uns alle diese Zusammenhänge nie bewußt. Es ist uns selbstverständlich, daß wir schon von Kind auf singen oder gar ein Instrument spielen können, ohne Noten oder musiktheoretische Anleitung zu bekommen — alles das wird vom Unbewußten her gesteuert, wo die Proportionsgesetze in einer noch viel feineren Differenziertheit angeboren sind, als wir sie darstellten. Da das Musizieren also der Reflexion über das Wesen des Gehörs nicht bedarf, ist man in unserer abendländischen Geschichte nie darauf gekommen, die erkenntnistheoretischen Möglichkeiten des Gehörs gründlich.zu durchdenken. Allein die Pythagoreer taten das und die wenigen, die ihnen folgten.

Es dürfte auf Grund dieser einfachen Mitteilungen klar sein, daß die Kaysersche Harmonik mit der Auswertung dieser Gesetze tatsächlich Neuland betritt, und neu sind demgemäß auch die sich einstellenden Ergebnisse. Der Schritt zur Welterkenntnis vollzieht sich dabei so, daß auf allen Gebieten und unter Zuhilfenahme aller Wissenschaften nach Zahlenzusammenhängen geforscht wird, die akustischer Art sind. Vor allem handelt es sich um Intervallproportionen, doch spielen auch komplexere Erscheinungen, wie beispielsweise die Obertonreihe, eine Rolle. So hatte schon Kepler die astronomische Bedeutung der Intervalle nachgewiesen, und zwar in jenem bereits erwähnten Hauptwerk „Har-monices mundi libri V“. Er fand sie in großer Anzahl, beispielsweise durch Vergleich der Aphel- und Perihelgeschwin-digkeiten, also der täglichen Fortbewegung am sonnenfernsten und sonnennächsten Bahnpunkt, wie die folgend Tabelle angibt:

Kayser hat nicht nur Kepler wieder ins rechte Licht gerückt, sondern sich auch um die Forschungen des Kristallo-graphen Viktor Goldschmidt verdient gemacht. Dieser hatte sich um die Aufdeckung musikalischer Gesetze im Aufbau der Kristalle bemüht und war sehr erfolgreich gewesen. Dabei ergaben sich nicht nur Intervalle, sondern auch Zusammenhänge analog der Obertonreihe, und Goldschmidt konnte sogar ein Schema angeben, das Kayser dann mit einer altpythagoreischen Tafel akustischer Gesetze zu identifizieren vermochte. Kayser selbst machte sich an die Erforschung botanischer Gesetze und konnte aus diesem Bereich viel interessantes Material in seinem Buch „Harmonia Plantarum“ zusammentragen. Neuerdings hat sich sogar ergeben, daß die Struktur der bekannten Mendelschen Vererbungsgesetze eine rein harmonikale ist.

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Die vorgebrachten Beispiele genügen für unsere Absicht des Hinweisens. Sie haben außerdem klarwerden lassen, wie die Harmonik dabei methodisch verfährt. Sie stellt nämlich die verschiedensten Gebiete zueinander in Analogie, um damit die Identität ihrer Strukturen und Normen zu erweisen. Die Harmonik beruht also überwiegend auf dem morphologischen Denken und macht das Verfahren der Analogie zu einem wissenschaftlich brauchbaren System. Auch das unterscheidet sie prinzipiell von den Naturwissenschaften, die ja überwiegend kausalmechanisch vorgehen, wennschon morphologische Gesichtspunkte in neuerer Zeit mehr in den Vordergrund zu kommen scheinen.

Die Basis der Harmonik wird also von den Kategorien des Gehörs und von einem ausgedehnten morphologischen Denken gebildet. Das Ergebnis ist die Entdeckung, daß im Aufbau der Welt akustisch-musikalische Gesetze einen beträchtlichen Anteil bilden und oft geradezu normative Funktion haben. Nicht ohne guten Grund nannte Paul Hindemith seine Kepler-Oper „Die Harmonie der Welt“. Es läßt sich diese gewonnene Erkenntnis jedoch übernehmen in einen Bereich, in dem nun der Mensch mit den ihm eigenen schöpferischen Fähigkeiten Gestalter wird: in die Kunst. Für die Musik versteht sich das von selbst, nicht so sehr aber für die bildende Kunst. Dennoch läßt sich nachweisen, daß schon in der Antike bewußt nach musikalischen Gesetzen gebaut wurde. Kayser demonstriert das besonders deutlich in seinem Buch „Paestum“, in dem er nachweist, daß sich die Aufbaugesetze der dortigen drei altgriechischen T&mpel sämtlich in Noten ausdrücken lassen! Auch im Mittelalter wurde die Proportionenlehre bewußt angewendet, vor allem dann in der Renaissancezeit, und es bildet diese „angewandte Harmonik“ ein ganzes großes Kapitel für sich.

Die Zusammenhänge, die die Harmonik aufdeckt, sind also wahrhaft universell und reichen zudem weit in die Symbolik und Kulturgeschichte hinein, so daß die scheinbar heterogensten geistigen Bereiche miteinander verbunden werden. Diese Verbindung geschieht, wie wir nun wissen, über die Gesetze des Gehörs und wäre auf eine andere Art nicht möglich. Somit kommt tatsächlich der Einbeziehung des Gehörsinnes in die Welterkenntnis eine große Bedeutung zu, zumal in der heutigen Zeit, wo die Frage nach dem Sinn der Welt lauter denn je gestellt wird und wir überdies das hoffnungslose Bild immer weiter auseinanderstrebender SpezialWissenschaften vor uns haben.

Da diese Lehre von der akustisch-musikalischen Weltenharmonie in besonderem Maße alle Musiker und Musikinteressierte angeht — denn sie haben zu ihr einen besonders leichten Zugang —, hat sich die Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst entschlossen, die Harmonik in ihren Lehrplan aufzunehmen. Sie ist damit die einzige Hochschule der Welt, die dieses wichtige Grundlagenfach hat, und der Verfasser dieses Artikels lehrt dort seit einem Jahr.

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