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Naturrecht und Positivismus

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Auf einer Staatsrechtslehrertagung in Göttingen warf Walter Jellinek vor einigen Jahren die Frage auf, ob die Bezeichnung als Positivist heute eine Beleidigung sei. In der Tat sprechen die Anhänger anderer Auffassungen, insbesondere der Naturrechtslehre, gerne in einer Weise über den Positivismus, die einem Angriff auf die Ehre seiner Vertreter bedenklich nahekommt. So war erst jüngst wieder in einer Abhandlung vom „Effektivitätskult“ und von der „Räubermoral des Positivismus“ die Rede. Auch nach den Ausführungen von Dr. Kittl in der „Furche“ vom 18. Dezember 1954* scheinen die Positivisten ein höchst bedenklicher Menschenschlag zu sein. In Wahrheit sind sie aber wohl doch besser als der Ruf, der ihnen so bereitet wird. Auch sie wollen die Moral nicht aus dem Lexikon streichen und die Verbindlichkeit sittlicher Normen nicht bestreiten. Der Streit zwischen Naturrechtslehre und Positivismus ist zu einem Gutteil nichts anderes als ein Mißverständnis. Es beruht auf einer Mehrdeutigkeit der Worte „Recht“ und „Geltung“.

In jedem Staat finden wir eine Ordnung, die von seiner Autorität gedeckt wird und gegen deren Verletzung er seine Gewalt einsetzt. Diese Ordnungen haben in ihrem historischen Nacheinander und Nebeneinander ganz verschiedenen Inhalt. Aber ob sie die Sklaverei anerkennen oder Gleichheit und Freiheit aller postulieren, ob sie die Vielweiberei zulassen oder die Einehe vorschreiben, immer sind sie

Unter dem in dem Aufsatz Dr. Kittls genannten „Strafrechtslehrer der Innsbrucker Universität“ verstand der Verfasser übrigens Prof. Rittler, nicht den Autor des heutigen Beitrags. (Die Red.)

Ergebnis und Abbild einer Meinung über die richtige Gestaltung des Lebens in der Gemeinschaft. Der Positivist bezeichnet jede solche Ordnung als Recht. Er untersucht sie nach ihrer Struktur und nach dem rechtspolitischen Wollen, das in ihr wirkt.

Aber der Mensch untersteht nicht nur diesem positivistisch verstandenen Recht. Er untersteht auch anderen Normen. So denen der Moral. Ihr Ordnungsbereich greift weiter als der des positiven Rechts. Aber er. umfaßt auch dessen Gebiet. So sind Entsprechungen, aber auch Widersprüche möglich. Hier greift die Naturrechtslehre ein. Für sie ist „Recht“ nur die sittlich richtige Ordnung der Gemeinschaft, und das auch dann, wenn ihr die staatlichen Normen nicht entsprechen. Dem Naturrecht „gilt“ unabhängig von seiner Positivierung, die staatliche Ordnung nur, wenn sie ihm entspricht. Anderenfalls ist sie nach naturrechtlicher Auffassung nicht „Recht“, sondern nur unverbindliche Gewalt.

Das Naturrecht hat das heilige Pathos der Sittlichkeit. Es verpflichtet den Menschen durch sein Gewissen. Das positive Recht hat aus sich selbst heraus keinerlei Pathos. Die positivistische Aussage, daß ein bestimmtes Recht „gilt“, ist ganz formal. Sie besagt nur, daß es in einem bestimmten Zusammenhang mit anderen Rechtssätzen steht (Legalität), oder daß seine Verletzung einen hierfür vorgesehenen Zwang auszulösen pflegt (Effektivität). Eine Geltung im1 höheren Sinn kann es aber nicht schon aus die-sen Gründen, sondern nur dann beanspruchen, wenn es durch seine sittliche Richtigkeit ausgewiesen wird.

Kein Positivist wird heute behaupten, daß nur die staatlichen Normen Befolgungsanspruch haben. Die positivistische Schau muß diesen Anspruch überhaupt offenlassen. Sie kann nur feststellen, daß die staatliche Macht Gehorsam für ihre Normen verlangt. Ob zu Recht oder zu Unrecht, steht damit noch völlig dahin. Um das zu entscheiden, muß sich der Positivist an die Moral wenden, der Naturrechtler an das Recht. Beide können dazu kommen, den Befolgungsanspruch der staatlichen Norm zu verneinen. Der eine sagt: „Ich folge der Moral und meinem Gewissen, nicht diesem unsittlichen Recht“, der andere: „Ich folge dem Recht, nicht aber einer unsittlichen Gewaltordnung.“ Zuletzt sind nur die Ausdrücke verschieden.

Gewiß, der Positivismus hat seine Grenzen nicht immer gekannt. Aber wenn er dem staatlichen Recht gelegentlich ausschließlichen Gehorsam eingeräumt hat, so lag darin eine — freilich abwegige — Ideologie der Macht, die mit einem methodenreinen Positivismus nichts zu tun hat. Er bedeutet zunächst den Verzicht auf jede ideologische Beurteilung. Er verlangt eine bloß immanente Prüfung. Worum es dem Positivismus geht, ist nur eine klare, begriffliche und methodische Trennung der beiden Ebenen: auf der einen liegen die positiven, durch staatlichen Zwang durchsetzbaren Normen, auf der anderen jene höheren, die das Gewissen verpflichten. Beide bilden in sich geschlossene Wertordnungen, die als solche durchforscht und behandelt werden können. In-soferne ist die Moral für eine positivistische Betrachtung allerdings „metajuristisch“. Aber eine solche Betrachtung ei füllt die Aufgabe nur zur Hälfte. Das positive Recht muß sich vor der Moral rechtfertigen kennen. Auch das hat der Jurist zu prüfen.

Der Gesetzgeber kann nie nur positivistisch arbeiten. Ihm ist die positive Ordnung ja nicht vorgegeben, er muß sie schaffen. Dabei muß er sich von seiner Einsicht in die höhere Ordnung leiten lassen. Aber er hat dabei nicht nur auf die Gerechtigkeit zu achten, sondern auch auf die Rechtssicherheit. Er muß die Grenzen seiner Möglichkeiten und seine besondere Aufgabe erkennen: er muß mit den irdischen Richtern rechnen, die nicht allwissend sind, und sich dessen bewußt sein, daß die irdischen Gerichte nicht über Sünden zu richten, sondern eine sinnvolle, sittlich fundierte Gemeinschaftsordnung aufrechtzuerhalten haben.

Das individuelle, vielleicht fehlgeleitete oder abwegige Gewissen kann im Rechtsleben nichts entscheiden. Es kommt auf das „richtige“ Gewissen an. Ihm hat der Gesetzgeber seine Normen nachzubilden. Und für dieses in unserem Kulturbewußtsein eingebettete Gewissen kann er jeden einstehen lassen. Dieser Gedanke liege auch dem österreichischen Strafgesetz zugrunde, wenn es für den bösen Vorsatz die Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der verpönten Handlung nicht verlangt, weil sie „jeder als unerlaubt von selbst erkennen kann“ ( 233), oder, wie es in 3 früher hieß, „das Unrecht derselben unverkennbar ist“. Möge der Gesetzgeber seine Strafgesetze immer so fassen, daß dies für ein christliches Gewissen zutrifft.

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