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Philosophische Weltschau

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PHILOSOPHISCHE SYSTEMATIK. Von Paul Natorp. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Hans Natorp und Heinrich Knittermayer. Verlag Felix Meiner, Hamburg. XL und 420 Seiten. Preis 32 DM.

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PHILOSOPHISCHE SYSTEMATIK. Von Paul Natorp. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Hans Natorp und Heinrich Knittermayer. Verlag Felix Meiner, Hamburg. XL und 420 Seiten. Preis 32 DM.

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Es könnte sein, daß man dieses Nachlaßwerk des großen Marburgers nur noch historisch nimmt, nachdem die beiden letzten Kant-Schulen längst durch die Phänomenologie überwunden scheinen und diese ihrerseits durch eine offene Dialektik oder Aporetik in Nikolai Hartmann und Heidegger. Das ist auch der Fall, wenn man sie als reine Methodologie nimmt, für die „Sein" bei Cohen, Natorp und Lask oder der „Wert“ bei Windelband und Rickert nur „Grenzbegriff“ einer „Bewegung ins Unendliche“ ist. Aber das gilt nur, wenn man Sein wie Wert im Sinn einer systematischen Metaphysik nimmt. Hier gilt, was Natorp im Eingang seines Nachlaßwerkes scharf betont: daß ein „endgültiges System“ aufgehoben werde durch eine „philosophische Systematik“ S. 1, deren Richtung und Wesen nichts anderes seien als „Besinnung des Lebens selbst auf nichts andres als es selbst, das Leben“ S. 3. Gewiß unterscheidet sich Natorp hierin gegen Cohen, für den nicht „Leben" das Grundwort ist, sondern die Transzendenz, in der ein grenzbegriffmäßiges Sein das immer neue Gericht ist über alles denkerische Streben im Sinn einer echten Säkularisierung der Transzendenz des alttestamentlichen Gottes als des überthronenden „Ich bin, der Ich bin“ — wie dementsprechend Cohen seine Philosophie sich in eine jüdische Theologie vollenden ließ. Aber auch Natorp trägt jenes Prophetische in sich, das das letzte Pathos Cohens ist. Nur ist dieses Prophetische in ihm wesentlich ein solches, in dem das Pathos Schillers mächtig ist: das Pathos eines je mächtigeren Lebens in einem noch so mächtigen Tod vgl. S. 9 ff., im Sinn einer „Ueberendlichkeit, das ist des Uebersteigens des ganzen Bereiches dieses Immer- und doch Nimmer- endens" S. 75, nicht in einem „Kreisgang“ wie der „kyklos“ und die „kyklophoria“ das letzte Wort asiatischer wie aristotelischer Philosophie sind, sondern in „einer spiralischen Entwicklung zum Ueber- endlichen“ ebenda, um so „aufs Ganze zu gehen“ S. 64 f., im Sinn des „heraklitischen Satzes vom einen, das sich mit sich selbst entzweien muß, um mit sich selbst in sich selbst wieder zusammenzugehen, und zwar immer und in allem“ S. 55. So sehr Natorp bemüht ist, dies nur als Rhythmus seiner Methodologie zu nehmen — in Wahrheit enthüllt sich hierin so etwas wie eine immanente Metaphysik, ja immanenter Mythos der vorgeblich reinen Methodologie. Eine „statische Metaphysik“ ist abgelehnt, um eine „dynamische Metaphysik“ an ihre Stelle zu setzen. Die Ueberraschung des Nachlaßwerkes ist, daß so gut wie alle späteren Versuche, eine solche dynamische Metaphysik zu gewinnen von Dilthey zu Bergson, zu Heidegger, als abkünftig von Natorp nun erscheinen müssen. Das Prophetische, das in all diesen Versuchen spürbar ist, ist im prophetischen Pathos Natorps vorweggenommen.

THOMAS-LEXIKON. Von Ludwig Schütz. Verlag Frommann, Stuttgart. 8 89 Seiten. Preis 62 DM.

Es ist ein großes Verdienst des Frommann-Ver- lages, diesen Faksimileneudruck des längst vermißten Thomas-Lexikons herauszugeben. Zwar enthalten die alten Thomas-Ausgaben einen Reichtum an Stellenregistern. Und zwar bringt die neue deutsche Thomas-Ausgabe der Dominikaner überaus fruchtbare Ueberblicke. Aber für die heutige Thomas- Renaissance in Frankreich wie Deutschland ist auch heute noch das Thomas-Lexikon von Schütz eine unvergleichliche Quelle. Gewiß ist die Thomas- Anschauung, wie sie vo allem auch den Verdeutschungen zugrunde liegt, diejenige der Neuscholastik der letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts, in ihrer Unbelastetheit durch eine „Thomas-Aporetik“ und durch die historischen Forschungen Ehrles, Bäumkers und Grabmanns wofür vor allem der Artikel über die „analogia“ ein gutes Beispiel ist, die entgegen den Thomas-Stellen fälschlich mit „verhältnismäßiger Gleichheit" wiedergegeben wird, wie es noch der Anschauung der Neuscholastik entspricht, die freilich heute noch, etwa bei Söhngen, zäh nachwirkt. Aber das paralysiert sich mehr als genug durch den Stellenreichtum, durch den der Benützer alle noch so einseitigen Deutungen kritisch nachprüfen kann.

KARL JASPERS: RECHENSCHAFT UND AUSBLICK. Verlag Piper, München. 432 Seiten. Preis 9.80 DM.

Das Bedeutende dieser Sammlung ist, daß Jaspers in ihr die Ursprünge seiner Philosophie so klar herausstellt wie sonst nie. Die Spannweite in ihm zwischen dem typologisierenden Arzt, dem fast pro- phetenhaften Politiker und dem Schöpfer einer fast mystischen Philosophie der Erscheinung des „Seins“ unter der „Chiffre“ des „Scheiterns“ ergibt sich in dieser Sammlung sowohl aus dem Bild der Männer, die er als seine Former offen bekennt Max Weber wie Goethe, wie Kierkegaard, wie Nietzsche, als auch aus den Entwicklungsstufen seines eigenen Lebens und Denkens. In wohltuendem Gegensatz zu Heidegger macht er aus den Etappen seiner Entwicklung kein undurchdringliches Geheimnis. Wenn Heidegger immer mehr den Typus eines „My- stagogen“ pflegt, gibt sich Jaspers dem Heidegger faktisch viel verdankt als offener menschlicher Mensch in Menschengemeinschaft, der eben darum die heißgeliebte Chiffre „Scheitern" überstrahlt wissen will durch die Chiffre „Kommunikation". Und diese „Kommunikation“ ist ihm so wenig „Begriff“, daß er sie in dieser Sammlung lebendig sein läßt in einer einfach „menschlichen Sprache“. So sehr man geneigt sein konnte, seine Philosophie als je neben Kompromiß zwischen ärztlichem und philosophischem Menschen zu sehen Kompromiß, in dem ein geistiges Arzttum immer wieder die Oberhand behielte — in Wirklichkeit zielt diese Philosophie auf den seltenen Typus einer betont „menschlichen Philosophie“. Philosophie entspringt für diesen „menschlichen Philosophen“ nicht aus einer platonischphänomenologischen „epoche“ zum Leben, sondern ist „Weisheit aus dem Leben heraus ins Leben hinein". So werden die zwei letzten Stücke der Sammlung, „Mein Weg zur Philosophie" und „Ueber meine Philosophie", zu einer Art von Gnoseologie der besonderen Philosophie Karl Jaspers’.

DIALEKT1K, POSITIVISMUS, MYTHOLOGIE. Von Walter Brocker. Verlag Klostermann, Frankfurt am Main. 113 Seiten. Preis 6.75 DM.

Dem äußeren Thema nach unternimmt es Brocker, die Entwicklung der deutschen Philosophie in einem Ternär zu fassen: zwischen eigentlicher Dialektik in Hegel, dem Positivismus vom Materialismus der Nach-Hegel-Zeit bis zum mathematischen Positivismus von Carnap und Wittgenstein, den er als implizite Dialektik zu demaskieren sucht, und der Mythologie wie sie für ihn in Heidegger die Philosophie der Zukunft ist. Dem inneren Thema nach aber versucht Brocker so etwas wie eine „Ahnengeschichte“ Heideggers. Gewiß zeigt das entsprechende dritte Kapitel „Heideggers Mythologie“ einen kritischen Abstand zu Heidegger zu gewinnen: da er nicht Heidegger, sondern Hölderlin als Prototyp einer „Philosophie als Mythologie“ immer mehr herauszeichnet. Aber die Sprache des ganzen Buches steht dann doch zu sehr unter dem magischen Einfluß Heideggers, so daß die versuchte Reserve eben nur ein Versuch ist. Immerhin aber ist das Buch ein gutes Zeichen der gesamten Lage der gegenwärtigen deutschen Philosophie: in ihrem Bestreben, zwischen reinem Begriff in der Nachfolge Hegels und einem urhafteri Mythos wie die Philosophie der Romantik, in Baader, wie Schelling, wie auch Görres ihn zum Ur 'einer lebefishäftän Philosophie haben eine neue Synthese zu gewinnen, so sehr freilich in dieser Gegenwartsphilosophie die eigentlichen Köpfe fehlen.

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