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Dialektik zwischen Tod und Leben

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Paul York v. Wartenburg: Bewußtseinsstellung und Geschichte. Ein Fragment aus dem philosophischen Nachlaß. Eingeleitet und herausgegeben von Iring Fetscher. Max Niemeyer, Tübingen. VIII und 220 Seiten. Preis 17 DM

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Paul York v. Wartenburg: Bewußtseinsstellung und Geschichte. Ein Fragment aus dem philosophischen Nachlaß. Eingeleitet und herausgegeben von Iring Fetscher. Max Niemeyer, Tübingen. VIII und 220 Seiten. Preis 17 DM

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Dieses Fragment des ebenbürtigen Freundes von Wilhelm Dilthey (wie es Fetscher mustergültig herausgibt) darf man wohl als philosophisches Ereignis ansprechen. Denn es schlägt die Brücke zwischen Diltheys großem Unternehmen, die Vielheit der philosophischen Systeme auf menschliche Typen zurückzuführen, und Heideggers „Sein und Zeit“, in dem er, nach eigenem Geständnis, Diltheys anthropologischen Historismus mit der Phänomenologie Husserls zu synthetisieren versucht. Und gleichzeitig zeigt sich die innere Verwandtschaft Diltheys und Yorks zu jenem Georg Simmel, der das „Leben“ zur Grundlage aller philosophischen Problematik nahm und hierin zum andern „Vater“ Heideggers ward. Man wird sagen dürfen, daß dieses, 1897 entstandene Fragment (also nach Dilthey und vor Simmel), zugleich die zu Dilthey gemäße, fast systematische Metaphysik herausarbeitet, die für Heidegger (zusammen mit dem Briefwechsel Diltheys mit York, auf den Heidegger sich in „Sein und Zeit“ bezieht) objektive Grundlage ist, das heißt die Grundlage, die Heidegger selber nicht subjektiv herauszustellen vermochte. Es ist endlich, trotz seines schmalen Um-fangs (oder vielmehr gerade durch die Geballtheit seiner Perspektiven) dasjenige Werk des neuzeitlichen Denkens, von dem aus das Problem zwischen griechischer Antike, Offenbarung, Alten und Neuen Bundes und neuzeitlicher Philosophie bewußt bis ins letzte gesichtet ist. Yorks Grundmethode ist: „Rückgang auf die Fülle der Lebendigkeit“ (S. 3 3), aber in ihrem „Charakter der Gegensätzlichkeit“ (S. 41), bis soweit, daß „nur mittels des Andern das Selbst“, wie „nur mittelst des Selbst der Andre i s t“ (S. 42). so daß die „totale Gegensätzlichkeit gleichsam die Unruhe der primären Lebendigkeit ist“ (S. 62). Darum sieht York in Heraklit seinen Meister (S. 66), aber ebenso im Wort des Evangeliums: „Wer sein Leben findet, der wird es verlieren, und wer sein Leben verliert, der wird es finden“ (Matth 10; 39),

das er in seinen philosophischen Fundamentalsatz faßt: „Der Tod ist ein Merkmal des Lebens, und die radikale Transzendenz des tiefsten, des christlichen Bewußtseinsstandpunktes postuliert das Leben als ein Merkmal des Todes“ (S. 88). In dieser Dialektik zwischen Tod und Leben als der innersten Dialektik der „Lebendigkeit“, in der allein Leben erfahren wird, vollendet sich die anthropologische Dialektik zwischen dem „Selbst“ und dem „Andern“ hinein in eine wahrhaft kosmische Dialektik: „Die Form des lebendigen Prozesses ist die Differierung des Einheitlichen und die Identifizierung des Differenzierten“ (S. 188). Hierin ist Diltheys „Lebendigkeit“ als „Leben in entgegengeTetzen Typen“ als Metaphysik einer „dynamischen Transzendenz“ explifiziert, das heißt aber als Grundlage nicht nur für Simmeis „Leben in Gegensätzen“, sondern hinein in deren Popularisierung in der Leben-Tod-Dichtung Rilkes (in den „Duineser Elegien“ und in den „Sonetten an Orpheus“) und in den Existentialismus Heideggers und Sartres, für die das „Sein“ als „Leben“ im Diagramm der „Gefühle“ des Menschen als lebendig „Seiendem“ sich „enthüllt“ und hierin als „Wahrheit“, getreu zu Yorks Satz, daß das „Gefühl“ die „zentrale Seite der Lebendigkeit“ sei (S. 44).

Univ.-Prof. Dr. Erich Przywara SJ.

Salazar und sein neues Portugal. Von Hans S o k o 1. Verlag Styria, Graz. 314 Seiten mit 17 Abbildungen und vier Karten. Preis 122.50 S.

Durch Studien und langjährigen Aufenthalt in Portugal ist der Autor des vorliegenden Buches in der Lage, eine umfassende und von gründlicher Sachkenntnis zeugende Darstellung des „Phänomens“ Salazar zu geben und gleichzeitig durch kundige Hinweise auf die geschichtlichen und ökonomischen Bedingungen der Regierungsführung seitens des portugiesischen Staatschefs Dinge verständlich zu machen, die uns bisher unverständlich gewesen sind. In der neuesten Geschichte ist kaum ein Land so eindeutig und mit einem Minimum von Gewalt

und Macht von einem einzigen Menschen in seiner politischen Struktur bestimmt worden, wie Portugal. Die einfache Formel. Salazar als „Diktator“ abzutun, kann den Sachverhalt nicht wiedergeben. Wie vermöchte ein Mensch in einem Land, dessen neueste Geschichte bis zum Regime Salazar eine Kette von Revolutionen und Despotien gewesen war, anders als durch „sanfte“ Gewalt Ordnung auf Dauer zu schaffen?

Der Verfasser versteht es, uns an Hand von Dokumenten die Person des Staatschefs ebenso vorzustellen wie die besondere Situation zu zeichnen, in der sich Portugal im zweiten Weltkrieg befand.

Freilich: Die menschliche Größe Salazars und sein politisches Vermögen sind ein Einmaliges. Auf der anderen Seite steht aber die kaum gebändigte Leidenschaft eines Volkes, das den Wechsel der politischen Szenerie liebt, ein Volk, dessen Denken noch immer von Prinzipien einer konservierten Auf-

klärung bestimmt ist. Daher erhebt sich, gerade weil die Größe Salazars alles andere, was an politischen Kräften da ist, überschattet, die Frage: Was nach Salazar?

Der Verfasser gibt uns Einblicke, wie es nur ein Kenner vermag. Aber die große Frage, ob das, was Salazar. geistig und politisch geschaffen hat, nicht nur mit seiner Person verbunden war, kann er uns nicht beantworten.

Gerade weil in Oesterreich 1933 eine Entwicklung ihren Anfang nahm, die in Portugal weitergeführt werden konnte, gibt uns das Buch viele Anregungen und Vergleichsmaßstäbe, wobei wir am Beispiel Portugal erkennen lernen, mit welchen Bedingungen ein Experiment, das sich „christliche Politik“ nennt, rechnen muß, und wie sehr es in der Politik nicht allein auf die Programmatik, sondern auf die Moral des Politikers ankommt.

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