Säkularer Mystizismus

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Ist die postmoderne Philosophie ein Hort der Scharlatanerie und des eleganten Unsinns? Aus einem heimlichen Verdacht wurde eine handfeste Debatte.

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Ist die postmoderne Philosophie ein Hort der Scharlatanerie und des eleganten Unsinns? Aus einem heimlichen Verdacht wurde eine handfeste Debatte.

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Nichtsahnend studierten die Herausgeber der angesehenen kulturwissenschaftlichen Zeitung "Social Text" das eingelangte Manuskript. Unter dem imposanten Titel "Die Grenzen überschreiten: Auf dem Weg zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation" wetterte der New Yorker Physiker Alan Sokal gegen das "Dogma", daß es "eine Welt (gebe), deren Eigenschaften unabhängig sind vom einzelnen Individuum und sogar von der gesamten Menschheit". Die physische Realität sei "im Grunde ein soziales und sprachliches Konstrukt", fuhr der ihnen unbekannte Autor fort, ganz auf der Linie der amerikanischen "cultural studies", zu deren Zentralorganen "Social Text" gehört.

Nach einem kühnen Streifzug durch Quantenmechanik, Relativitätstheorie und höhere Mathematik sowie postmoderne und poststrukturalistische Philosophie plädierte Sokal für eine "emanzipatorische Wissenschaft", in der Wahrheit und Falschheit keine Rolle mehr spielen, sondern nur die politische Nützlichkeit in Bezug auf die Überwindung von kapitalistischer und patriachalischer Unterdrückung. Dabei stützte der Autor seine im gängigen kulturwissenschaftlichen Jargon gehaltenen Thesen auf Zitate von Größen der amerikanischen Kulturwissenschaft und der Creme de la Creme der französischen Gegenwartsphilosophie: Jacques Lacan, Jacques Derrida, Jean Baudrillard, Gilles Deleuze, Paul Virilio und viele andere. Der Aufsatz beeindruckte die Herausgeber von "Social Text" derart, daß sie ihn in einer Sondernummer abdruckten.

Kurz nach der Veröffentlichung machte Sokal publik, daß es sich bei diesem Text um eine Parodie handle, eine krude Mischung aus humanwissenschaftlichen Floskeln, naturwissenschaftlichen Termini, Absurditäten und Nullsätzen, versetzt mit sinnlosen, nichtsdestoweniger authentischen Zitaten geisteswissenschaftlicher Autoritäten. Der Gelehrtenstreit, der daraufhin ausbrach, brachte die Elfenbeintürme inden USA und Frankreich ins Wanken. Zwei Jahre später legte Sokal noch ein Schäufelchen nach: Zusammen mit dem belgischen Physiker Jean Bricmont veröffentlichte er ein Buch, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt: "Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen", das Sokal vorige Woche in Wien präsentierte.

Ihr Resümee: Die - vereinfachend gesagt - postmoderne Philosophie ist eine Fundgrube von "eklatanten Fällen von Scharlatanerie" und "geistiger Hochstapelei". Akribisch weisen sie einem vermeintlichen Meisterdenker nach dem anderen falsche oder offenbar sinnlose Verwendung von Ideen und Begriffen aus Mathematik und Physik nach. Obwohl sie beteuern, als Physiker nur über den Mißbrauch naturwissenschaftlicher Ideen und Begriffe zu richten, beschädigen sie natürlich das Gesamtwerk der kritisierten Philosophen und Soziologen: "Wenn man in einem Teilgebiet Hochstapelei entdeckt, sollte man auch den Rest mit Vorsicht genießen", bekannte Sokal in Wien.

"Insbesondere wollen wir den Nimbus zerstören, den einige Texte besitzen: Sie seien deshalb so schwierig zu verstehen, weil die darin vorgebrachten Gedanken so tiefgründig seien. In vielen Fällen werden wir aufzeigen, daß die Texte einzig und allein deshalb so schwierig erscheinen, weil sie absolut nichts aussagen", schicken Sokal und Bricmont voraus. "Der Kaiser ist nackt" rufen sie aus, ganz so wie jenes Kind in dem Märchen "Des Kaisers neue Kleider" von Hans Christian Andersen, das nicht auf den gewitzten Schneider-Betrug hereinfällt.

Die Beispiele für Hochstapelei und fundamentale Irrtümer sind Legion: Bei Paul Virilio etwa, der als der Philosoph der Geschwindigkeit gilt, stoßen Sokal und Bricmont auf die Verwechslung zwischen Geschwindigkeit und Beschleunigung, zweier Grundbegriffe, "die zu Beginn jedes Einführungskurses in die Physik erläutert und sorgfältig unterschieden werden", wie sie süffisant anmerken.

Das beste Beispiel für den angeprangerten Mißbrauch ist der Psychoanalytiker Jacques Lacan, der in den Augen seiner Schüler die Psychoanalyse revolutionierte, ansonsten aber schon immer im Verdacht stand, ein Scharlatan ersten Ranges zu sein. Eine Kostprobe: "So also symbolisiert das erektionsfähige Organ den Platz des Genießens, nicht als es selbst, nicht mal als Bild, sondern als der dem Begehrten Bild fehlende Teil: darum ist es auch mit dem Ã-1 [...] gleichzusetzen, des Genießens, den es durch den Koeffizienten seiner Aussage der Mangelfunktion des Signifikanten wiedererstattet: (-1)". Da können sich selbst die beiden Physiker Sokal und Bricmont einen Scherz nicht verkneifen: "Wir gestehen, daß es uns bedrückt, wenn unser erektionsfähiges Organ mit Ã-1 gleichgesetzt wird. Dies erinnert uns an Woody Allen, der sich in ,Der Schläfer' gegen die Umprogrammierung seines Gehirns wehrt: ,Sie dürfen mein Gehirn nicht anrühren, das ist mein zweitliebstes Organ!'"

Fazit: Lacans Mathematik sei so "bizarr, daß sie für eine seriöse Psychoanalyse nicht von Nutzen" sein könne. Da Lacans offensichtlich pseudowissenschaftlichen Schriften mit Verstand und Logik nicht beizukommen ist und seinen Schülern mittlerweile als Grundlage ehrfurchtsvoller Exegese dient, bezeichnen Sokal und Bricmont als "säkularen Mystizismus".

Sehr ergiebig sind auch die Texte der französischen Gelehrten Luce Irigaray, die mit dem Aufsatz "Ist das Subjekt der Wissenschaft geschlechtsspezifisch?" berühmt wurde. Darin eröffnete sie ihren erfreuten Leserinnen, daß Physik und Mathematik mit ihrem Anspruch auf Objektivität und Rationalität männlich geprägt seien. Kein Wunder, daß die Mechanik der festen Körper gut untersucht sei, während es in der Strömungsphysik kaum Fortschritte gebe - entspreche das Feste doch dem Männlichen und das Flüssige dem Weiblichen. Auch Einsteins berühmte Formel E=mc2 sei geschlechtsspezifisch, weil durch die Bevorzugung der Lichtgeschwindigkeit andere Geschwindigkeiten diskriminiert würden. Dabei scheint Irigaray von Physik und Mathematik weit weniger Ahnung zu haben, als sie vorgibt: Daß sich die Quantenmechanik für das "Verschwinden der Welt" interessiere oder Ausdrücke wie "Beschleunigungen ohne elektromagnetisches Gleichgewicht" sind purer Nonsens. "Wer Rationalität und Objektivität für männlich, sowie Gefühl und Subjektivität für weiblich hält, wiederholt die plattesten sexistischen Stereotypen. Mit solchen Freunden braucht die feministische Sache eigentlich keine Feinde mehr", wundern sich Sokal und Bricmont.

Im Grunde richten sich die beiden Physiker gegen den epistemischen Relativismus, demnach jede gesellschaftliche Gruppe, ja sogar jedes menschliche Individuum seine eigene Begriffswelt, Realität und deshalb auch seine eigene Wahrheit besitze. Ob eine Aussage wahr oder falsch ist, hängt demnach vom jeweiligen Sprecher ab. An bestimmten amerikanischen Fakultäten steht daher die Urknalltheorie mit indianischen Schöpfungsmythen auf einer Stufe. Dort gilt die moderne Wissenschaft nur als eine "Erzählung", als ein "gesellschaftliches Konstrukt" oder als ein "Mythos" unter vielen. "Anything goes" - diese Losung hatte der Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend ausgegeben, und seither scheint wirklich alles zu gehen.

Geisteswissenschaft kann ruhig von der Wirklichkeit abgehoben sein, doch sie sollte immer noch mit der Realität vereinbar sein. Nur allzu oft aber zerschellen die kunstvollen theoretischen Gebilde schmählich an den scharfen Klippen der Realität: Bei einer aufsehenerregenden Gerichtsverhandlung in Belgien, bei der es um peinliche Justizpannen bei den Ermittlungen gegen den Kinderschänder Dutroux ging, war unter anderem das Verschwinden einer wichtigen Akte Thema. Ein Polizist schwor, er habe einem Richter die Akte gegeben, während dieser bestritt, sie erhalten zu haben. Ein klarer Fall, sollte man meinen: Einer der beiden sagt nicht die Wahrheit. Doch am nächsten Tag äußerte ein Professor für Kommunikationsanthropologie namens Yves Winkin in einem Zeitungsinterview allen Ernstes dazu: "Anthropologisch gesehen gibt es nur partielle Wahrheiten, die eine größere oder kleinere Zahl von Menschen teilt: eine Gruppe, eine Familie, eine Firma. Es gibt keine transzendente Wahrheit. Deshalb glaube ich auch nicht, daß Richter oder Polizeibeamter etwas verbergen: Beide erzählen ihre Wahrheit. Es ist nicht überraschend, daß diese beiden Personen, die zwei sehr unterschiedliche berufliche Welten repräsentieren, jeweils eine andere Wahrheit vorbringen."

Relativismus und Irrationalismus mache Aufklärung und Gesellschaftskritik unmöglich, warnen Sokal und Bricmont. Umso schlimmer, daß Verfechter der Gleichberechtigung von Minderheiten und Feministinnen bevorzugt diesen Strömungen verfallen: "Wenn alle Abhandlungen nur Geschichten oder Erzählungen sind und keine mehr Objektivität und Wahrheit besitzt als eine andere, muß man einräumen, daß die schlimmsten sexistischen oder rassistischsten Vorteile und die reaktionärsten sozio-ökonomischen Theorien die gleiche Berechtigung haben."

Die in "Eleganter Unsinn" direkt und indirekt Angegriffenen reagierten symptomatisch: Auf den Inhalt der Kritik gingen sie nicht ein, stattdessen schossen sie sich auf die "rechthaberischen" und "pedantischen" Autoren ein. Die Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva unterstellte Sokal und Bricmont "Frankophobie", der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour behauptete, ein paar theoretische Physiker reagierten ihren Frust über das Ende des Kalten Krieges und die Reduktion fetter Forschungsbudgets ab. (Latour hatte im Anschluß an eine Untersuchung der Mumie des Pharao Ramses II., die zum Schluß kam, der König sei an Tuberkulose gestorben, gefragt: "Wie konnte er an einem Bazillus sterben, der 1882 von Robert Koch entdeckt wurde" ...) So mancher Verteidigungsversuch führte zu einem Eigentor: Kristeva etwa jammerte, sie habe gerade an einer Grippe laboriert, als sie einen bestimmten Artikel verfaßte. Pascal Bruckner schrieb, Frankreichs Intellektuelle seien "weniger Philosophen und Soziologen als Essayisten", die ohnehin keine wissenschaftlichen Modelle anstrebten. Also doch reine Dichtung?

In den Buchhandlungen werden die Werke von Lacan und Konsorten wohl weiterhin im Regal "Wissenschaft" und nicht im Regal "Literatur" oder "Esoterik" stehen. Schließlich endet auch das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern mit den Worten: "Und die Kammerherren trugen weiterhin die Schleppe, die nicht da war."

ELEGANTER UNSINN Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen Von Alan Sokal und Jean Bricmont Verlag C. H. Beck, München 1999 öS 291,-/e 21,15

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