Essex Vietnam Flüchtlinge - © Foto: APA / AFP / Nhac Nguyen

Tödliche Routen

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Der Fund von 39 Leichen in einem Kühl-LKW in Essex zeigt, dass die Aufrüstung der Sicherheitsmaßnahmen an den Grenzen auch am Ärmelkanal fatale Folgen hat.

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Der Fund von 39 Leichen in einem Kühl-LKW in Essex zeigt, dass die Aufrüstung der Sicherheitsmaßnahmen an den Grenzen auch am Ärmelkanal fatale Folgen hat.

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Die Umstände liegen noch im Dunkeln, unter denen 39 Migranten Mitte letzter Woche in einem Kühllaster auf dem Weg nach Großbritannien ums Leben kamen. Welche Route der LKW zurücklegte, ist ebensowenig bekannt wie das Netzwerk, das wohl dahintersteckt. Gleiches gilt für die Rolle der beiden festgenommenen Fahrer. Einer von ihnen, der den Container im englischen Hafen Purfleet abholte, wird des unfreiwilligen Totschlags in 39 Fällen beschuldigt, zudem des Menschenschmuggels, der Hilfe zur illegalen Immigration sowie der Geldwäsche. Am Montag wurde seine Untersuchungshaft bis Ende November verlängert.

Viel erwarten sich die Behörden von der Befragung des zweiten Mannes, der Ende der Woche verhaftet wurde, als er mit einer Fähre aus Frankreich in Irland ankam. Er ist derjenige, der den Container im belgischen Hafen Zeebrugge absetzte. Die Hafenleitung geht davon aus, dass die acht Frauen und 31 Männer nicht erst in Zeebrugge an Bord gelangten. LKW-Fahrer vor Ort bestätigen gegenüber belgischen Medien, dass dies angesichts des logistischen Aufwands unwahrscheinlich sei.

Die Auswertung von Tachograf und GPS- System seines Fahrzeugs soll Aufschluss über die Route geben und womöglich den Ort enthüllen, an dem die Migranten in den Container stiegen. Auch dies könnte in Belgien geschehen sein. Drei andere Verdächtige, die kurz nach dem Fund der Leichen am 22. Oktober verhaftet worden waren, wurden am Wochenende gegen Kaution vorübergehend freigelassen. Beide verdächtigen Fahrer stammen aus Nordirland.

Vietnam nach Europa

Bewegung kommt dagegen in die Frage nach den Herkunftsländern der Opfer: Hieß es zunächst, es handele sich um Chinesen, sollen sich nach BBC-Angaben zumindest drei Vietnamesen darunter befinden, und es gibt Anzeichen, dass es deutlich mehr sein könnten. Sowohl in England als auch in Belgien hat in den letzten Jahren die Ausbeutung vietnamesischer Arbeiterinnen und Arbeiter drastisch zugenommen.

Wenige Tage, nachdem die Opfer auf einem Industriegelände in Grays östlich von London entdeckt worden waren, veröffentlichte die vietnamesische NGO Human Rights Space Screenshots einer SMS-Konversation einer jungen Frau mit ihrer Mutter. Darin schreibt die 26-Jährige: „Mein Weg ins Ausland ist nicht gelungen“, und „Ich sterbe, weil ich nicht atmen kann.“ Verschickt wurden sie am Abend des 22. Oktober, zwei Stunden vor Ankunft des Containers im Hafen von Purfleet in der Grafschaft Essex.

Seither gibt es weitere Berichte über Familien in Vietnam, allesamt aus derselben Provinz, die ihre nach Europa migrierten Kinder vermissen. Der öffentlich-rechtliche belgische Rundfunksender VRT zitiert Jan Segers, den Vorsitzenden der belgisch-luxemburgischen Industrie- und Handelskammer in Vietnam: „Zur Zeit gibt es 34 vermisste Vietnamesen, die die Reise nach Europa gemacht haben.“ In Vietnam, so Segers, gehe man auch davon aus, dass der Kühl- Container Teil eines Konvois aus drei LKW gewesen sein könnte. Die britische Polizei hat inzwischen Dokumente nach Vietnam geschickt, um die Identifikation der Opfer voranzutreiben.

Die belgische Tageszeitung De Morgen vergleicht den Fall mit Menschenschmuggel-Aktivitäten chinesischer Mafia – vor allem mit dem Fund von 58 Leichen in einem Tomatentransporter im Juni 2000 im Hafen von Dover. Damals handelte es sich bei den Opfern tatsächlich um Chinesen. Abfahrtshafen war ebenfalls Zeebrugge. 1993 lief der in Bangkok gestartete Frachter Golden Venture vor New York auf Grund. Beim Versuch, die Küste zu erreichen, starben zehn der auf dem Schiff versteckten Migranten.

In Belgien werden nun auch Erinnerungen an den Sommer 2014 wach. Damals gab es im Hafen von Tilbury, gut zehn Kilometer östlich von Purfleet, einen Todesfall: Einer von 35 afghanischen Sikhs, die in einem aus Zeebrugge kommenden Container versteckt waren, konnte nur noch tot geborgen werden. Auch damals betonten belgische Behörden, die Menschen müssten sich schon bei der Ankunft in Zeebrugge in den Containern befunden haben.

Globale Netzwerke

Bei einer ersten Sitzung vor dem Gerichtshof in Chelmsford sprach der Ankläger am Montag von einem „weltweiten Schmuggel-Ring“, der „zahlreiche illegale Immigranten ins Vereinigte Königreich“ gebracht habe. Dass der Container nach Purfleet verschifft wurde, passt zum Befund der britischen National Crime Agency (NCA), wonach beim Menschenschmuggel zunehmend kleine Häfen eine Rolle spielen, wie eben Purfleet und Tilbury.

Was die Situation auf dem Kontinent betrifft, so bestätigt der aktuelle Fall einmal mehr, dass sich der Seehafen von Brügge, ein unübersichtliches Terrain zwischen Strandviertel und dem Rest des Städtchens, in den letzten Jahren zu einer Drehscheibe der klandestinen Kanal-Überquerung entwickelt hat. Dies gilt für organisierten Menschenschmuggel ebenso wie die in Belgien „Transmigranten“ genannten Geflüchteten, die unbemerkt probieren, herüber nach England zu kommen. Dass sich beide Phänomene überlagern, ist umso offensichtlicher, je mehr die Sicherheitsbedingungen in Häfen und an der Küs­te verschärft werden. Kommerzielle Hilfe muss dabei nicht bedeuten, dass gewissenlose Mafiosi Menschen in Kühlcontainern ihrem Schicksal überlassen. Aber auch sie profitieren von einem Trend, der sich zuletzt deutlich abzeichnete: Wo die Chancen einer individuellen versteckten Überfahrt sinken, gibt es mehr riskantere, organisierte Methoden, wie die NCA bestätigt.

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