6778964-1969_34_07.jpg
Digital In Arbeit

Die Ratten verlassen das Schiff

19451960198020002020

Ein Wort charakterisiert die gegenwärtige Atmosphäre in Saigon: Aufbruch. Sicher, von Panik kann nicht die Rede sein, und die Dinge gehen ihren gewohnten Gang. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß alles, was irgendwie Geld und Einfluß besitzt, diskret mit „Evakuierung“ beschäftigt ist. Nach dem Gespenst des Krieges läßt heute das Gespenst des Friedens Saigon erzittern.

19451960198020002020

Ein Wort charakterisiert die gegenwärtige Atmosphäre in Saigon: Aufbruch. Sicher, von Panik kann nicht die Rede sein, und die Dinge gehen ihren gewohnten Gang. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß alles, was irgendwie Geld und Einfluß besitzt, diskret mit „Evakuierung“ beschäftigt ist. Nach dem Gespenst des Krieges läßt heute das Gespenst des Friedens Saigon erzittern.

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Jahrzehnt lang brachte es die südvietaamesische Hauptstadt zustande, am Rande des Krieges zu überleben. Das Napalm, die B-52, die Entlaubungen, die Tarnungen, die „search and destroy“-Operatio-nen — all dies galt dem Nha Ke, dem Bauern; denn wie durch ein Wunder hatte der Krieg vor den Pforten der Stadt angehalten. Dort begann eine andere Welt; eine Welt der Intrigen, des Wuchere und der Korruption, eine Welt von lärmendem Luxus und voll schmutziger Geschäfte.

Saigon wurde durch die „Eskalation“ zur Welthauptstadt des Diebstahls. Im Hafen verschwinden tagtäglich 450 Tonnen Waren. Ganze Konvois verflüchtigten sich, um auf mysteriöse Art an der kambodschanischen Grenze wieder aufzutauchen. Denn Saigon ist auch die Lunge des Viet-kong: von den Waffen über Antibiotika bis zu Lastwagenmotoren, die sich plötzlich im tiefsten Dschungel in unterirdischen Frontfabriken wiederfinden. In dem Maße, in dem der Krieg das Land verheert, bereichert sich die Hauptstadt. Im PX, dem amerikanischen Armee-Warenhaus für die Truppen, werden jährlich für

19 Millionen Dollar Waren gestohlen. Und ein Fünftel der gekauften Artikel (fWart 120?aU*eai.Jbllar) ers.cheia£(,$n zwee* dem Schwarzmarkt.

Größtes „racket“ jedoch sind die Zuteilungen. Man muß nur, so erklärt mir ein Saigoner Geschäftsmann, das Importmonopol für einen Artikel zugeteilt bekommen. Dies berechtigt zu einer Devisenanforderung. Darauf arrangiert man sich mit dem Produzenten, damit dieser seinen Preis

20 Prozent über dem realen Preis ansetzt. Die Differenz wird auf ein Auslandkonto eingezahlt. Damit hat man Millionen von Dollars illegal aus dem Land gebracht.

Aber es gibt noch raffiniertere Raubzüge. Ein Musterbeispiel: Wellblech. Man braucht es hier für die Dächer der Häuser und der Tausenden von Baracken, die in den riesigen Vorstädten Saigons zwei Millionen Flüchtlinge beherbergen. Ein unentbehrlicher Artikel also. Vor einigen Monaten erhielten drei Saigoner Geschäfteleute das Einfuhrmonopol für Wellblech, gegen das Versprechen, es 10 Prozent unter dem Tagespreis zu verkaufen. Sobald sie das Monopol zugesprochen bekommen hatten, stellten sie die Einfuhren ein. Folge war eine Krise auf dem Wellblechmarkt, wodurch der Preis auf das Vierfache hochschnellte. In diesem Augenblick griffen die drei Männer auf die vorsorglich aufgestapelten Lager zurück und verkauften diese zu einem phantastischen Preis. Schließlich wurden sie daran doch gezwungen, vertragsgemäß zu importieren und zum abgemachten Preis zu verkaufen. Aber einem Verlust von 10 Prozent auf der einen Seite stand ein Gewinn von 290 Prozent auf der anderen gegenüber.

Zwar gehen diese Transaktionen weiter. Aber das Hauptinteresse der Spekulanten liegt heute anderswo. Der Wandel besann mit der Tetoffensive von 1968, den Straßen-

schlachten und den Bombenabwürfen mitten in die Stadt. In wenigen Stunden brach eine Welt der Illusionen und der Verantwortungslosigkeit zusammen. Dann kamen die Pariser Gespräche, der Bombenstopp Im Norden, das ergebnislose Treffen in Midway, die Schaffung des GRP und der erste Rückzug von 25.000 amerikanischen Soldaten. Die Reichen haben begriffen: das Schiff sinkt, es gilt abzuspringen.

Ganz im stillen hat der Auszug begonnen, vor einem Jahr schon. In dieser Zeit erhöhte sich die Zahl der vom Innenministerium ausgestellten Ausreisevisa um 60 Prozent, und die Boeings der Air France, die Saigon zweimal wöchentlich mit Paris verbinden, werden gestürmt. Die Behörden sind ziemlich verlegen und halten mit Zahlen zurück, aber es wird gesehätzt, daß von den 1600 Vietnamesen, die jeden Monat ihr Land leeal verlassen, die Hälfte nicht mehr zurückkehrt. Das macht seit Besinn der Vietnamgespräche in Paris ungefähr 10000 Auswanderer. Auf den ersten Blick scheint das wenig; tatsächlich ist es aber eine ungeheure Zahl, wenn man in Betracht zieht, daß es sich um eine Elite handelt, und die Schwierigkeiten, die ihnen dabei in den Weg gelegt Werden.* i*~fpir * •*s**KT#Qr tiM “

TbeorätlsrffM eselniwfr'vTetnamesen fast unmöglich, aus seinem Land auf legale Weis auszuwandern. Es sind komplizierte Formalitäten und eine „Steuer“ bis 25.000 Franken notwendig, um in Saigon ein Ausreisevisum zu bekommen. Wenn junge Männer im miHtärd'enstpflichtigen Alter zu einem Paß kommen wollen, benötigen sie zwei höhere Offiziere, die dafür garantieren, daß sie zurückkehren und ihren Militärdienst absolvieren. Unnötig zu erwähnen, daß auch solche Bürgschaften etwas kosten, vor allem, da Rekruten, die einmal das Visum erhalten haben, ihren Fuß nie mehr in das Land setzen. Wer weder die nötigen Mittel noch Beziehungen besitzt, um legal hinauszukommen, hat noch zwei Möglichkeiten: entweder man beweist, daß man als Abkömmling eines Franzosen das Recht auf einen französischen Paß hat, oder man verschwindet illegal. Der Preis für ein „Zeugnis für französische Staatsbürgerschaft“ kostet auf dem Schwarzmarkt ungefähr 10.000 Franken, die illegale Grenzüberschreitung 4000 bis 20.000 Franken. Die Zahl der auf diese Weise emigrierten Personen ist unbekannt, sie dürfte aber nicht sehr hoch sein. Denn wer das Land verläßt, verfügt im allgemeinen über genügend Mittel, um die Unbequemlichkeiten und Gefahren einer geheimen Uber-schreitung der kambodschanischen Grenze oder einer Reise ta untersten Schiffsraum eines Frachters mit Bestimmungsort Singapur zu vermeiden. Um so mehr, als sich diese Leute nicht allein auf Fahrt begeben, sondern einer ganz ansehnlichen bereits vorangegangenen Dollarsumme folgen.

Dieser illegale Kapitalauszug ist heute im großen und ganzen beendet. Der

Ertrag aus den Transaktionen mehrerer Jahre liegt heute bestens geschützt in den Safes der großen europäischen, vor allem französischen, Banken. „Seit einem Jahr kommen ununterbrochen Vietnamesen zu uns“, gestand kürzlich ein Bankier. „Sie legen Millionen von -. Dollar bar attf den Tisch.“ Informierte Kreise nehmen_*jjä'jJSß die totale Summe, die Vietnam auf diese Weise verlassen hat, zwischen

anderthalb und zwei Milliarden Dollar liegt...

Die Saigoner Regierung unternimmt alles in ihrer Macht Stehende, um die Auswandererflut zu bremsen, aber das Beispiel, das sie selber gibt, wirkt im umgekehrten Sinn: der ehemalige, Inf orfliqMmiulster Pham Xuam Thai, ein Mitglied der Regierungsdelegation an der.Konie-r, renz in Paris, verschwand an dem Tag, an dem man ihn aufforderte,

nach Saigon zurückzukehren. Und was General Thieu betrifft: er brachte seine Kinder in Rom unter; seine Frau hat sich eben ein Haus in Europa gekauft. Die Ausgabe der amerikanischen Zeitschrift „Newsweek“, die diese Tatsachen enthüllte, w|rd%An,ASaigon kqpUfziajt “,Dfk in dem Klima, das heute die südvtet-nawretifictee? nHHuptstsdV--behewScMt1 hat eine solche Nachricht subversiven Charakter.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung