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Wilson im Kreuzfeuer

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Nach den parteipolitischen hektischen Wochen der alljährlichen Parteikonferenzen und den geschäftigen Tagen der Strategen und Berater vor Beginn der heurigen Sitzungsperiode des Parlaments hätte England zur innerpolitischen Routine übergehen können. Doch mehrere Faktoren verhinderten dies, und die Regierung sieht sich an Schärfe gewinnenden Angriffen aus der Presse und katastrophalen Niederlagen in Nachwahlen gegenübergestellt. Nicht nur Premierminister Wilson sucht zu ergründen, ob sich dahinter eine echte Vertrauenskrise verbirgt.

Auf Wilson und seinen Kollegen In der Regierung lasten nach wie vor drei große Probleme, gegen die etwaige erzielte Fortschritte zwergenhaft erscheinen: Bemühen um Beitritt zur EWG, die wirtschaftliche Malaise und Rhodesien.

An sich ist es schon schwierig für einen Premierminister, das Land zu regieren, wenn einzelne Posten mit umstrittenen Persönlichkeiten besetzt sind. Tritt in dieser Lage eine wachsende Welle der Unpopularität der gesamten Regierung hinzu, ist der Regierungschef keineswegs zu beneiden. Gerade eine solche Konstellation ist gegenwärtig in Großbritannien zu beobachten. Denn zuletzt wurden in drei geographisch weit auseinanderliegenden Winkeln Nachwahlen zum Parlament abgehalten, die der Regierungspartei katastrophale Niederlagen bescherten. An Prozentpunkten gemessen, betrug der Pendelschlag zugunsten der konservativen Opposition zwischen 6,7 Prozent und 16,6 Prozent, wobei die Wahlbeteiligung in zwei Wahlkreisen ebenso hoch war wie vor einem Jahr bei der allgemeinen Parlamentswahl. Im einzelnen wurden in drei Wahlkreisen folgende Ergebnisse veröffentlicht:

Obgleich in den einzelnen Wahlkreisen gewisse Sondereinflüsse zutage traten, offenbaren sie doch ein deutliches Muster. In Hamilton gewann mit Mrs. Ewingder erste Kandidat der Schottischen Nationalpartei im ersten Versuch den umworbenen Sitz in Westminster. Damit kam die zweite Nationalpartei zum Zuge, nachdem bereits seit einem Jahr Mr. Gwynfor Evans die Walisische Nationalpartei für den Wahlkreis Camarthen im Unterhaus vertreten hat. Bei den wirtschaftlichen Unterschieden zwischen Schottland und Wales einerseits und England andererseits scheinen die auseinanderstrebenden Kräfte zuzunehmen.

Der Grimm der Parteilinken

Das Bild der innenpolitischen Lage rundet ein Zusatzantrag zu dem von Königin Elizabeth II. verlesenen Regierungsprogramm ab, den bisher

31 sozialistische Abgeordnete unterzeichneten. Die vorwiegend links vom Parteizentrum stehenden Abgeordneten bezeichneten die Ergebnisse der Nachwahlen als ausreichende Rechtfertigung für den Zusatzantrag. Die Geduld der Wähler mit der konservativen Wirtschaftspolitik der Regierung sei endgültig erschöpft, wodurch etwaige Fortschritte auf anderen Gebieten übersehen wurden. Daher müsse die wirtschaftspolitische Linie entscheidend geändert werden, die der Regierung ohnehin von der Londoner City, der Bank of England, dem Schatzamt, von Bankiers in den USA und Mitteleuropa aufgezwungen worden ist. So verständlich der aufgestaute Grimm der Parteilinken auch sein mag, durch solche unqualifizierten Pauschalverdächtigungen könnten sie auch auf anderen Gebieten nicht mehr ernst genommen werden. So erstrebenswert ein rasches wirtschaftliches Wachstum, Vollbeschäftigung und sozialer Fortschritt an sich sind, in der praktischen Wirtschaftspolitik müssen Realitäten zur Kenntnis genommen werden. Eine Kontrolle des Kapitalverkehrs, eine selektive Importkontrolle, eine nationale Investitionsgesellschaft und zu gründende verstaatlichte Unternehmen sind dazu nicht imstande.

Das kleinere Übel

Welche Alternativen bleiben unter diesen Umständen dem Premierminister? Soll schon jetzt der Antrag in Brüssel zurückgezogen werden und eine Assoziation der gesamten EFTA mit der EWG angestrebt werden, wie der frühere Handelsminister Douglas Jay vorschlägt? Oder soll ganz diskret eine politische Auffangstellung vorbereitet werden? Soll in der Konjunkturpolitik der Druck auf das Gaspedal verstärkt werden? Welchen Ausweg gibt es in der Rhodesienfrage?

Fragen über Fragen. Je länger man darüber nachdenkt, um so mehr offenbart sich eine unangenehme Wahrheit: Der Wilson-Kurs ist von allen Übeln noch das geringste, weil er langfristig zumindest eine kleine Chance erblicken läßt, aus der gegenwärtigen Misere auszubrechen. Denn in der Außenpolitik, aber auch in der Wirtschaftspolitik, ist Großbritannien ein Nehmer, der lediglich über wenig Freiheitsgrade verfügt. Dies konzedieren die Politiker im kleinen Kreis durchaus freimütig. So blieben als einzige Alternative zum gegenwärtigen Kurs eine flexiblere Europapolitik und vielleicht eine unkonventionellere Finanz- und Währungspolitik übrig. Eine Einschränkung des privaten Konsums in England wird man jedoch keinesfalls umgehen können. Auf diese Weise werden auch in den nächsten Nachwahlen empfindliche Stimmeneinbußen zu verzeichnen sein, vielleicht aber 1970 ein neuerlicher Triumph bei den Parlamentswahlen.

Vielleicht beginnt dann wieder Wilsons Pfeife zu schmauchen…

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