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Zwischen Weltgeschichte und Wahlen

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Paris, im November

Eine Reihe von Ereignissen, die Frankreich in den letzten Wochen auf das unmittelbarste berühren, geben dem Historiker Gelegenheit, über die Größe und die Vergänglichkeit der politischen Macht zu meditieren. Dem politischen Beobachter gestatten sie, Schlußfolgerungen um die Zukunft von Ländern, die sich nun endgültig emanzipiert haben.

Die Rückkehr des Sultans Ben Jussef nach Marokko erhebt sich daher weit über den Rahmen einer orientalischen Intrige zu dem eindrucksvollen Bekenntnis des Landes zur Unabhängigkeit. Die letzte europäische Kolonialmacht ist gezwungen, das Statut Nordafrikas zu revidieren. Nun geht auch in diesem Teile der Welt die bedingungslose Herrschaft des weißen Mannes zu Ende. Eine neue Form freier Assoziation zwischen souveränen Staaten, diesseits und jenseits des Mittelmeeres, beginnt sich zu kristallisieren. Nach ' einem machtvollen Abschnitt der europäischen Geschichte ist der “Vorhang gefallen.

Doch auch in Europa stellt der Ausgang der Saarabstimmung neue Probleme. Die europäische Integrationspolitik erhielt ihren gefährlichsten Stoß seit der Ablehnung der EVG. Ernste Reflexionen bezüglich einer weiteren Deutschlandpolitik sind erforderlich.

In diesen Kreis weltgeschichtlicher Entscheidungen wurde durch den Tod der Gattin des französischen Staatspräsidenten, Mme. Coty, ein Akzent wahrer Trauer und menschlichen Mitfühlens gebracht. Mme. Coty verstand es in ganz ausgezeichneter Weise, liebenswürdige Charakterstärke mit echtem Familiensinn zu verbinden, sie verkörperte damit ein bleibendes Frankreich, das von dieser Seite aus immer wieder neue Kräfte zu schöpfen weiß.

Man hätte also glauben können, daß die Abgeordneten des französischen Parlaments den Augenblick würdig zu interpretieren verstehen, um die Haltung ihrer Regierung zu unterstützen und die echten Leitlinien einer neuen Politik auszuarbeiten. Doch gerade das Gegenteil ist der Fall. In endlosen Sitzungen, die sich sehr oft nahe an der Grenze des Tumultes bewegten, wurde für oder gegen die sofortigen Wahlen polemisiert und in kleinlicher Weise um die Reform des Wahlrechtes gefeilscht. Ein starkes Un-lustgefühl macht sich im französischen Parlament bemerkbar und verbreitet sich von den Abgeordneten auf die Parteien. Immer wieder muß die Regierung die Vertrauensfrage stellen, machiavellistische Sondagen werden durchgeführt, der Rat der Republik pocht auf seine Prärogative. Parteien wie die SFIO schwören auf das Persönlichkeitswahlrecht, um wenige Stunden später für das Mehrheitssystem einzutreten, was nicht hindert, am Tage darauf die so getroffene Entscheidung wieder zu revidieren. Die bisherige Parlamentsmehrheit Edgar Faures bröckelt auseinander. In der Regierung schwärt eine latente Krise. Die Demission dieser oder jener Gruppe von Ministern kann stündlich erwartet werden. Doch die Nation begnügt sich, dieses Spiel ironisch zu kommentieren, verharrt jedoch in einer fast unverständlichen Gleichgültigkeit.

Trotzdem spielt sich hinter den scheinbar sterilen Auseinandersetzungen um die Wahlrechtsreform ein unbarmherziger Kampf ab, der die politische Orientierung des Landes bestimmen wird. Vor wenigen Monaten noch wären die französischen Wahlen um die Probleme der europäischen oder afrikanischen Politik abgehalten worden, heute geht es darum, ob Frankreich das Fortbestehen der politischen Parteien in ihren bisherigen Formen zu akzeptieren gedenkt oder deren Pulverisierung mit allen damit verbundenen Konsequenzen in Kauf nehmen will.

Dies ist der Einsatz des Duelles Edgar Faure gegen Mendes-France. Der Preis, der jenem Politiker winkt, der ebenso schillernd wie umkämpft das moderne Frankreich zu schaffen gedenkt, ist die Beherrschung des französischen Parlaments in der kommenden Legislaturperiod?. Als die Regierung Faure die Wahlen, die verfassungsmäßig erst im Frühsommer 1956 stattfinden sollten, vorverlegte, sprach eine Reihe von wichtigen Gründen dafür. Weitgehende Entscheidungen müssen getroffen werden, die das Schicksal der Französischen Union betreffen. Die europäische Integrationspolitik verlangt nach neuen Impulsen. Doch die wahren Motive, die nicht in den offiziellen Kommuniques und Reden zu finden sind, liegen ausschließlich im Phänomen Mendes-France. Dieser vermochte am letzten Parteitag der Radikalen seine Herrschaft über den Parteiapparat endgültig zu sichern. Mendes-France liebt die Methode genau ausgearbeiteter Pläne. Nachdem er bereits sein Leiborgan ..Express“ zu einer Tageszeitung umge-

arbeitet hat, die übrigens in keiner Weise dem einstigen hohen Niveau des Wochenblattes entspricht, bereitet er darüber hinaus eine riesige Kampagne in sämtlichen Wahlbezirken vor, die zeitlich bis auf die Minute hinaus fixiert wurde. Sein so klug eingeleiteter Plan sollte durch die vorzeitig angesetzten Wahlen in entscheidender Weise gestört werden. Die einzige Möglichkeit, seine Gegner zu torpedieren, bestand in der wirksamen Entfesselung eines Kampfes um die Wahlrechtsreform, um dadurch den Termin um Wochen oder Monate hinauszuschieben.

Das Persönlichkeitswahlrecht in zwei Wahlgängen konnte immer auf zahlreiche Anhänger, besonders in der zweiten Kammer, rechnen. Es benachteiligt natürlich die straff geleiteten Massenparteien wie MRP und Kommunisten, die dem Verhältniswahlrecht den Vorzug geben. Dazu kommt noch, daß die Parteien auf ihre Abgeordneten, die aus dem Persönlichkeitswahlrecht hervorgegangen sind, viel weniger Einfluß nehmen können. So befürchtet besonders die MRP, daß die Einheit der Bewegung in Frage gestellt würde. Die Kommunistische Partei, die ebenfalls heftigst gegen das Persönlichkeitswahlrecht Stellung nimmt, müßte mit einer Verminderung ihres Einflusses rechnen, sobald es nicht zu Abkommen im zweiten Wahlgang mit den anderen Linksformationen käme.

Die Regierung war gezwungen, bei den verschiedenen Vertrauensvoten die kommunistischen Stimmen in Kauf zu nehmen. Die Kommunistische Partei vermochte die Isolierung zu

durchbrechen, in der sie seit 1947 stand. Sie wird, zumindest im stillen, als nationale Partei toleriert; wenn auch bereits über die Genfer Sonne der Koexistenz Wolken ziehen, so kann doch eine Annäherung zwischen Sozialisten und Kommunisten schwerwiegende Folgen haben. Noch ist der Vorstand der SFIO unter keinen Umständen geneigt, solchen Wahlbündnissen eine Kaution zu geben. Betrachten wir die Vorgänge bei den Generalratswahlen oder vernehmen wir die Sirenenklänge einzelner sozialistischer Abgeordneter, so können wir nicht umhin, festzustellen, daß der Geist der Volksfront in einzelnen Departements herumschwirrt. So in den Gebieten südlich der Loire, wo das Gespenst der „klerikalen Reaktion“ die Verteidiger der laizistischen Republik nicht schlafen läßt.

Das Persönlichkeitswahlrecht war das klassische Instrument der Radikalen der Dritten Republik oder, wie es Halevy so treffend formuliert hat, der Republik der Würdenträger. Nicht die großen Probleme der Gegenwart ständen vor einer aus der Persönlichkeitswahl konstituierten Kammer, sondern die lokalen Interessen würden sich unweigerlich akzentuieren. Dieses Wahlsystem bestand auch 1922 bis 1937 und gestattete im Jahre 1936 die Bildung der

Volksfront und 1940 die Instaurierung des Regimes Petain.

Viele Abgeordnete, die sich derzeit auf das Personalwahlrecht berufen, sind ebenfalls keine ernsten Verfechter, hoffen jedoch, wie Mendes-France, die Wahlen möglichst lange hinauszuzögern. Vom 30. Oktober, wo das Personal-Wahlrecht über 266 Stimmen verfügte, bis zum 17. November, wo sich bereits 311 Abgeordnete dazu bekannten, liegt ein ausgezeichnet organisierter Propagandafeldzug, der in vielen Abgeordneten den Eindruck hinterließ, daß die Wähler ausschließlich diesem System den Vorzug geben. In der Tat ist das Proportionalsystem mit Listenkoppelung nie sehr populär gewesen. Edgar Faure geht es weniger um diese oder jene Form der Wahlen; er wollte unter allen Umständen das Gesetz so schnell durchpeitschen, um am 18. Dezember den Urnengang zu wagen. Durch die Blockierung ist dieses Projekt bereits illusorisch geworden. In immer größerer Verwirrung werden die Diskussionen abgeführt. Ein Plan jagt den anderen. Aelteste Gesetzesvorlagen, wie die des jetzigen Staatspräsidenten Coty oder eine andere des Abgeordneten Barachin werden aus der Schublade geholt, und jeder schiebt dem anderen die Schuld für die Verzögerung zu, so daß selbst ein routinierter Kenner des französischen Parlaments nicht mehr weiß, wer gerade den Schwarzen Peter auszuspielen gedenkt.

Wird es Mendes-France gelingen, noch so viele Wochen das Gesetz so zu blockieren, daß er seinen Wahlfeldzug starten kann? Sein Einfluß unter der Jugend wächst.

Doch neben den Volksrepublikanern ist nicht so sehr der Regierungschef sein wahrer Gegenspieler, sondern mehr denn je der jetzige Außenminister Pinay. Er ist es, der gerade in den letzten Wochen die Abgeklärtheit und Reife eines wirklichen Staatsmannes gezeigt hat. Pinay fühlt sich nicht mehr einer einzigen Partei verbunden, er ist nicht in starren Doktrinen verankert, sondern verkörpert die Ruhe eines Bürgertums, das den Ausgleich der Kräfte und den Pluralismus der Weltanschauungen anstrebt.

Die Wahlen werden daher entscheiden, in welchem Umfang der Wunsch nach einer radikalen Erneuerung der Prinzipien der französischen Innenpolitik im Volke verankert sind. Man durfte Wahlenthaltungen bis zu 40 Prozent erwarten; um dieser Gefahr auszuweichen, hat man die Wahlpflicht eingeführt. Und so ist die Stunde angebrochen, an der die Mehrheitsparteien der Vierten Republik ihre Bilanz mit einer Reihe unzweifelhafter Erfolge, aber auch zahlreichen negativen Ergebnissen vorweisen müssen. Wird die Nation diese Leistung anerkennen und sich neuerlich zu den traditionellen Kräften bekennen, oder wird sie dem Ruf einer Persönlichkeit folgen, der auch in Frankreich die Aera der Technokratie, des Ueber-gewichtes der Wirtschaft über den Menschen, einführen will? Daher ist eine Entscheidung zu treffen, die nicht nur in Frankreich allein bedeutende Auswirkungen haben wird, sondern auch die Zukunft Europas in den nächsten Jahren prägen muß.

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