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Der Geist in der Materie
Die Geistesgeschichte Europas ist eine Geschichte zunehmender Spaltungen. Da Sein, dort Nichtsein, da Geist, dort Materie, da Mensch, dort Natur. Seit Europa dem Atom, dem Unteilbaren nachjagt, betreibt es paradoxerweise die Teilung des Ganzen. Solcherart wird alles zur Fiktion.
Die Versuche, aus diesem Dilemma einen Ausweg zu zeigen, fanden und finden nach wie vor in Wien statt. Mit der Vergabe des Donaulandpreises an Rupert Riedl, Vorstand des Zoologischen Institutes der Universität Wien, wird ein Wissenschaftler geehrt, der auf dem Gebiet der Biologie jene Wiener Tradition integrati-ven Denkens fortsetzt, die sich quer durch alle Disziplinen zog und im eigenen Land bislang als Tradition kaum wahrgenommen wurde.
Anscheinend entsprach die Utopie des Vielvölkerstaates—die Vielheit zu einer Ganzheit zu vereinen —nicht bloß politischer Notwendigkeit, sondern einem tiefen Bedürfnis, dem in den in Wien entstandenen wissenschaftlichen Theorien in herausragender Weise entsprochen wurde.
Die Biologie als vergleichsweise junge Wissenschaft folgt auf dieser Linie relativ spät. Verständlich zu machen und zu zeigen, daß von ihr Entscheidendes für das Leben des Menschen, dessen Selbstverständnis gesagt werden kann, blieb Konrad Lorenz mit der Entwicklung der Evolutionären Erkenntnistheorie vorbehalten.
Sozusagen eine Etage höher und völlig unabhängig von Lorenz entwickelt Riedl seine Theorie. 1975 legt er sie in „Die Ordnung des Lebendigen“ vor. Es folgen „Die Strategie der Genesis“, „Biologie und Erkenntnis“, „Die Spaltung des Weltbildes“.
Riedl, Schüler Ludwig von Ber-talanffys, hat als Anatom und Meeresbiologe begonnen. Ausgehend vom Formenreichtum der Meere suchte er erst dessen ökologische und historische Erklärung in den Mechanismen der Evolution, um konsequenterweise bis zur Entwicklung unserer Vernunft vorzudringen als Voraussetzung für deren Begreifen.
Im Wechselspiel von Zufall — wo und wann Evolution Erfolg hat - und der Notwendigkeit, daß „bewährtes Wissen“ in der Natur nicht über Bord geworfen werden kann, entsteht der Mensch als „ein Wesen, dessen Denkordnung mit der Naturordnung identisch ist“. Im alten Streit der Philosophie zwischen Empirismus und Idealismus — entweder nur gelten zu lassen, was beweisbar ist oder die Idee als das einzig Wirkliche anzuerkennen - tritt eine dritte Position zu Tage. Riedl vertritt sie mit allem Mut zum Risiko.
Der Nachweis, daß Natur- und Denkordnungen identisch sind, schafft eine Verbindung zwischen Geist und Materie. Daß der Geist Vorbedingungen unterliegt, redet ebensowenig einem Materialismus das Wort, wie Teilhard de Chardin in seiner Arbeit „Christus in der Materie“ einen Pantheismus vertreten hat. Die Lösung hegt in der Synthese. Gott ist nicht abgeschafft in der evolutionären Erkenntnistheorie; Riedl gehört nicht zu den Deterministen. In den Wachstumszonen der Evolution bricht Freiheit auf und klingt Metaphysik an.
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