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Glauben und Denken

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DIE ZUKUNFT DES MENSCHEN. Von Pierre Teilhard de Chardln. Walter. Verlag, Ölten und Freiburg i. It., 1963. 405 Seiten. Preis 23 DM.

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DIE ZUKUNFT DES MENSCHEN. Von Pierre Teilhard de Chardln. Walter. Verlag, Ölten und Freiburg i. It., 1963. 405 Seiten. Preis 23 DM.

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Als Band V der französischen Ausgabe Teilhards in den Editions du Seuil führt das Buch den Titel „Lavenir de l'homme“. Es sind gesammelte Aufsätze von 1920 bis zu seinem Tod, 1955, zum Thema des Fortschritts der Menschheit. Das letzte Tagebuchblatt, drei Tage vor dem Tod, am Gründonnerstag, unter dem Titel „Was ich glaube“ geschrieben, bildet den Abschluß. Die beiden Artikel seines Credo lauten: Das Universum ist evolutiv nach vorn und nach oben; Christus ist das Zentrum. Im Unterschied zum „Mensch im Kosmos“, der das Thema der Zukunft nur streift, und zum „Göttlichen Bereich“, der Teilhards Theorien für die geistige und geistliche Haltung auswertet, beschäftigt er sich im vorliegenden Buch in theoretischen Überlegungen mit der Zukunft der Menschheit und sucht seine Thesen spekulativ zu untermauern und zu rechtfertigen. Das letzte Stadium der Evolution, die Noogenese, des Auftretens des Bewußtseins, setzt sich in eine Noodynamik fort, das heißt in eine weiterschreitende Reifung des menschlichen Geistes, die sowohl eine immer größere Sozialisierung (Zusammenwachsen der Menschheit; hat nichts mit dem politischen Sozialismus zu tun) als auch eine Personalisation zeitigt. Vier Thesen bilden den Grundstock der Überlegungen: Erstens: Im materiellen Universum ist das Leben kein Zufall, sondern das Wesen des Phänomens. Zweitens: In der biologischen Welt ist die Reflexion (das heißt der Mensch) keine Nebensache, sondern eine höhere Form des Lebens. Drittens: In der menschlichen Welt ist das soziale Phänomen keine oberflächliche Anordnung, vielmehr kennzeichnet es einen wesentlichen Fortschritt der Reflexion. Viertens: Im menschlichen Sozialorganismus stellt das christliche Phyluro (Stamm) nicht einen nebensächlichen oder divergierenden Sproß dar, vielmehr bildet es die eigentliche Achse der Sozialisation.

Es geht um eine irreversible Richtungsachse der Evolution auf die Unsterblichkeit zu, die in Christus, im mystischen Leib Christi der Lehre des heiligen Paulus, ähnlich wie im Stammbaum Christi der Evangelisten, ihre Vollendung findet. Alles, auch die heidnischen Religionen mit ihrer Anima natu-ralita christiana, mündet in der christlichen Erfüllung. Absolut nicht im pantheistischen Sinn: diesen Vorwurf weist Teilhard in allen seinen Werken eindeutig zurück. Die Liebe, die schließlich alles zusammenfaßt, ist nur als persönliche möglich.

Jenseits aller Diskussionen, mit Recht auch umstrittenen Punkten, mitunter recht fundamentaler Art, des Teilhardschen Evolutionsgedankens, zeigt Teilhard de Chardin, daß kein Widerspruch zwischen Wissen und Glauben, zwischen dem Buch der Natur und dem Buch der Offenbarung besteht, und wenn einer irgendwo auftaucht, dann ist nur der Mensch mit seinem begrenzten Denken daran schuld. Die neuzeitliche Lehre von der Evolution, von der Entwicklungstheorie in ihren verschiedenen Abarten, von den statistischen Gesetzen können nicht gegen den Glauben gedeutet werden, ebenso nicht, wie das frühere mechanistsiche Weltbild; sie sind nur zeitlich bedingte, vom jeweiligen Stand des Wissens abhängige Interpretationen der einen Weltordnung, die jede Interpretation erst ermöglicht. Der Mensch wird durch neue Erkenntnisse nur gezwungen, nicht Gott und den Glauben, sondern die Vorstellungen, die er sich von ihnen gemacht hat, zu ändern, zu reinigen, konsequenter durchzudenken. Wenn man bedenkt, daß das erst jetzt, hundert Jahre nach dem Auftreten des Evolutionsgedankens, geschieht, ist es höchste Zeit. Dazu zwingen uns die Überlegungen Teilhard de Chardins; man mag ihnen zustimmen oder nicht, mehr oder weniger Punkte seiner Lehre revidieren.

Neben dem, im großen und ganzen gesehenen Versuch, moderne Erkenntnisse über den Menschen christlich zu sehen, bringt Teilhards Denken noch den Vorteil, den Menschen, vor allem den gläubigen Menschen, nicht zwischen zwei Stühlen sitzen zu lassen, zwischen Geist und Materie, Diesseits und Jenseits, dieser zwiespältigen Folge einer „Logik des Ekels“, eines mehr oder minder eingestandenen Mani-chäismus, sondern ihn der Wirklichkeit, in der er lebt, zu der Leib, Welt, Geschichte usw. gehören, zurückzugeben, so daß er mit ungeteiltem Herzen sich an das diesseitige wie jenseitige Leben engagieren kann, an Wissen wie Glauben, an Natur wie Übernatur, an die Werke der Gebühr wie die der Übergebühr. Charakterlose Frömmelei wie fromme Charakterlosigkeiten, materiefeindlicher Idealismus wie geistfeindlicher Materialismus, Betende, die nicht denken, wie Denkende, die nicht zu beten wissen sind ihm ein Greuel. Dieser großartige Optimismus des Teilhardschen Denkens, in bezug auf die gegenwärtigen Pflichten und die zukünftigen Ereignisse, für die Probleme der Wissenschaften und der Religionen, kann nicht übersehen werden und darf nicht wegen der umstrittenen Einzelfragen unterschätzt werden, weil es ein Denken ist, das seinen Optimismus aus einem denkenden Glauben und gläubigen Denken schöpft.

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