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Trauriges Neujahr

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Der Lebensstandard hat sich in den letzten Monaten in der ČSSR etwas verbessert. Der Mangel an Arbeitskräften zwang zur Heraufsetzung der Löhne, die Abwanderung von Akademikern und technischen Spezialisten in den Westen machte den Verbliebenen Platz für einen Aufstieg in besser bezahlte Positionen. Inserate werben mit Gratifikationen, Betriebswohnungen und zusätzlichen Sozialleistungen. Da gleichzeitig die Pro-Kopf-Arbeitsleistung noch immer weit unter westlichem Niveau bleibt, steigen die Löhne schneller als die Produktion und bringen die Balance aus dem Gleichgewicht.

Kurz vor Weihnachten wurde nun das Reiseprogramm von ČEDOK, der jetzt allmächtigen staatlichen Reiseorganisation, bekanntgegeben. Die heimlichen Hoffnungen vieler Bürger der ČSSR, sich wenigstens zum Fest die Vorfreude auf eine Reise in den Westen schenken zu können, waren zerronnen. Das traf besonders alle jene besonders hart, die längst absprungbereit auf eine Möglichkeit warteten, die von Freunden und Verwandten im Westen vorbereiteten Arbeitsplätze einzunehmen.

260.000 Bürger der CSSR dürfen in diesem Jahr die Dienste von ČEDOK in Anspruch nehmen. Aber nur 20.000 können auf einen Busplatz — Fahrten im eigenen Wagen gibt es ohnehin nicht mehr — in den Westen hoffen. Die Bundesrepublik wird, im Gegensatz zu England und Frankreich, überhaupt nicht erwähnt. Indien und Zypern gelten als so zuverlässig, daß man sie nicht mehr den „kapitalistischen“ Ländern zurechnet, während Jugoslawien noch immer zur sozialistischen Kategorie gehört. Die Strände an der Adria den eigenen Bürgern vorenthalten zu wollen, konnte die ČSSR nicht wagen. Von Opatija bis Dubrovnik werden auch im Sommer 1971 improvisierte Wiedersehensfeiern zwischen Flüchtlingen und Daheim- gebliebenen stattfinden. Vorausset zung hiefür wird allerdings sein, daß der Tito-Staat wie bisher die Inhaber von Flüchtlingspässen passieren läßt. Bislang war die Einreise über Italien und Österreich stillschweigend geduldet. Je enger die Beziehungen der Bundesrepublik zur ČSSR jedoch werden, desto allergischer wird Jugoslawien darauf reagieren. Gleichzeitig wird auch die Chance für CSSR-Bürger, die Ferien an der Adria zum Sprungbrett in - den Westen zu nehmen, sinken.

Noch immer warten Hunderte von Emigranten im Westen darauf, daß ihre zurückgebliebenen Ehepartner und Kinder ausreisen dürfen — von den Zehntausenden Deutschen in der ČSSR, die seit Jahrein auf den Emigrantenpaß warten, ganz zu schweigen. Nach der radikalen Drosselung der Westreisen setzen sie alle ihre Hoffnung darauf, daß die Bundesrepublik bei den Verhandlungen mit Prag ihr Anwalt wird. Dann würde wenigstens das nächste Weihnachts- fest nicht zum Weinen.

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