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Vabanque mit unserer Demokratie

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„Dem Wort .Taktik' haftet in der Politik häufig etwas Anrüchiges an. Diese Einstellung scheint mir dann vollkommen unberechtigt zu sein, wenn Taktik dem, was Max Weber .Gesinnungsethik' nennt, sichtbar untergeordnet bleibt.“ Bruno Kreisky schrieb diese Zeilen am 2. Mai 1972 an die Ge-1 nossen Vorsitzenden (Lieber Willy, lieber Olaf!) der sozialdemokratischen Parteien Deutschlands und Schwedens.

Heute, 1978, ist das Bild ein grundlegend anderes: Das, was Max Weber auch heute noch „Gesinnungsethik“ nennen würde, ist der Taktik sichtbar (oder gar unsichtbar?) untergeordnet. Taktik in der Politik ist nicht länger etwas Anrüchiges; wohl eher die Gesinnungsethik.

Nichts veranschaulicht diese groteske Perversion ehemals goldener Grundsätze aus kreiskyschem Munde eindrucksvoller als das Debakel um Zwentendorf: Endgültig hat die Gesinnungsethik vor der Taktik kapituliert. Die Gefahr, daß der Atommeiler von Zwentendorf die gesamte menschliche Umwelt belastet, ist wahrscheinlich nicht ganz von der Hand zu weisen. Noch drohender scheint aber die Gefahr, daß die vielen durch Zwentendorf aufgeworfenen Fragen unserer politischen Umwelt, der Demokratie, unabsehbare Schäden zufügen.

Am Prüfstand steht das in Österreich konkret gelebte Prinzip der repräsentativen Demokratie. Nicht das in der Verfassung niedergeschriebene. Repräsentative Demokratie müßte doch bedeuten, daß der Wille des Volkes durch die periodisch in die gesetzgebenden Körperschaften gewählten Mandatare repräsentiert wird, gewissermaßen allgegenwärtig ist.

Was aber soll jemand von der repräsentativen Demokratie halten, der seit 30 Jahren und mehr regelmäßig den Beitrag für die Gewerkschaft zahlt, aber nie in seiner Eigenschaft als Gewerkschaftsmitglied um seine Meinung gefragt wird, und der sich dann aus dem Hohen Haus erzählen lassen muß, daß dort ein gewisser Anton Benya in der Kernenergiedebatte den Standpunkt der österreichischen Arbeitnehmer vertreten hat?

Erstens hat Benya nicht für „die Arbeitnehmer“ zu sprechen, weil es auch solche gibt, die der Gewerkschaft, aus welchem Grund immer, nicht angehören. Zweitens hat Benya nicht für „die Arbeitnehmer“ zu sprechen, weü er diese noch nie in ihrer Gesamtheit um ihre Meinung gefragt hat. Er spricht sich höchstens mit einigen Funktionären und Ämterkumulierern ab, die im ÖGB-Vorstand sitzen. Drittens hat Benya im Parlament nicht für „die Arbeitnehmer“ zu sprechen, weil er zumindest derzeit nicht vom ÖGB ins Parlament geschickt wird, sondern von den SPÖ-Wählern seines Wahlkreises - und für die hat er zu sprechen, auch wenn ein paar Hausfrauen und Selbständige darunter sind.

Es ist freilich nicht die Person Anton Benya, die allein verantwortlich ist für die vielen Fouls, die an der repräsentativen Demokratie begangen werden. Es ist der Typus des Multi-Funktio-närs, der mit einem Hintern in einer Gewerkschaft, in einer Kammer, in einer Personalvertretung oder in einer Parteizentrale sitzt, oder mit mehreren Hintern in mehreren dieser Institutionen sitzt - und erst mit dem dritten oder vierten Hintern im Nationalrat.

Das Prinzip der Repräsentation in unserer Demokratie hat also Risse. Wir leben in einer „Demokratie der Wenigen“, in der wenige Politiker fast alles bestimmen. Viele Politiker wenig be stimmen. Und fast alle Bürger fast gar nichts zu reden haben.

Jetzt ist auch zum nächsten Gedankenschluß kein weiter Weg: Weil die wenigen Politiker weiterhin allein entscheiden wollen, insbesondere jene, die die Mehrheit besitzen, fragen sie aus taktischen (nicht aus gesinnungsethischen) Gründen das Volk: Und zwar so, daß auf Grund der diktierten Fragestellung dem befragten Volk nichts anderes übrig bleibt, als das zu wollen, was die wenigen Politiker wollen, sich aber aus taktischen Gründen nicht zu beschließen getraut haben.

Daß das Volk über die friedliche Nutzung von Kernenergie befragt wird, ist an sich in einer Demokratie nichts Abwegiges. Wenn aber in der Vergangenheit das Volk nicht gut genug war, in wichtigen Fragen mitzuentscheiden, etwa in der Steuerpolitik, in der Familienrechtsreform oder in der Abtreibungsfrage, dann ist eindeutig festgestellt, daß der plötzliche Flirt der wenigen Politiker mit der direkten Demokratie nicht gesinnungsethisch motiviert ist, sondern rein taktisch, anrüchig taktisch.

Schließlich hat der Zwentendorf-Streit eine weitere Schwäche der Demokratie schonungslos aufgedeckt, eine Schwäche, die seit dem Ausklingen der Ära der Großen Koalitionen noch drastisch verstärkt wurde: Entscheidungen werden fast ausschließlich im Lichte der bei den nächstliegenden Wahlen zu erwartenden Stimmung getroffen. Ist eine notwendige. Entscheidung nicht opportun, dann wird sie vertagt oder, wie neuerdings, dem Volk übertragen.

Daß in der Demokratie alle paar Jahre vor dem Wähler Bilanz gelegt werden muß, ist die entscheidende Stärke dieses Systems. Daß die wenigen Politiker aber mit ihrem taktischen Auge stets auf diesen Termin fixiert sind, während das gesinnungsethische, wenn es nicht blind ist, über diese Schwelle nicht hinauskommt, ist die entscheidende Schwäche.

Für all jene, die es ernst meinen mit der Demokratie, wäre der Fall Zwen-tendorf ein ideales Lehrbuch; geschrieben von Taktikern.

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