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Perdrängen und Aktualität

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Im ersten Abschnitt des Lebens von Rudolf Steiner fällt, nachdem er vieles kennengelernt hat, die Entscheidung für die Philosophie.

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Im ersten Abschnitt des Lebens von Rudolf Steiner fällt, nachdem er vieles kennengelernt hat, die Entscheidung für die Philosophie.

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Anthroposophie ist seit geraumer Zeit im Gespräch. Man nimmt sie ernst.“ „Anthroposophie ist hoch aktuell. Wenn immer nach praktikablen, gegenwartsgemäßen und zukunftweisenden Alternativen gefragt wird, ist das Steinersche Lebenswerk im Gespräch, und zwar auf vielen Sektoren unseres gesellschaftlichen und kulturellen Lebens: auf dem gesellschaftlich-pädagogischen Gebiet in Gestalt der weltweit anerkannten Waldorfschulen, im Blick auf die Gewinnung vollwertiger Nahrungsmittel …, in den Bereichen von Heilpädagogik, Medizin und Heilmittelherstellung, nicht zuletzt in Zusammenhang vielfältiger künstlerischer Bestrebungen… Schauspielkunst, Malerei und Eurythmie … Architektonik.“ Die beiden Zitate stammen von Gerhard Wehr, dem Biographen Steiners, der nicht aus der anthroposophischen Bewegung stammt. Sie treffen die Lage.

Gerhard Wehr ist auch den Gründen nachgegangen, warum diese Aktualität „so spät“ eintrat: „Tragik eines Verkannten“? Ein „Außenseiter“, den zu besprechen noch immer „riskant“ ist? Oder sind es zeitgeistige Umstände, wonach der „Sinn für die großen Fragen und damit das Auffassungsvermögen für eine großzügige Weltanschauungsgestaltung … erstorben ist“? (H. E. Lauer) Oder liegt es daran, daß sein Lebenswerk eben nicht nur „Philosophie“ (in der herkömmlichen Form) ist, sondern der „Ruf zu innerer Besinnung, Umkehr an der Zeitwende“? In diesem Charakter liegt meines Erachtens der Grund für beides! Verdrängen und Aktualität. In der Zeitenwende, die alle fühlen, an der wir alle stehen, sind die Grundfragen in einem so viele Lebensbereiche erfassenden Werk wieder aktuell — für viele.

Der Autor der „Philosophie der Freiheit“ schließt freilich mit seinem Werk erst den geistig ersten Lebensabschnitt ab; diesen kann man Grundlegung oder den „klassischphilosophischen“ Lebensabschnitt des Werkes nennen. Und doch liegt darin schon eine der Wurzeln für die Verdrängung und Aktualität.

Steiner taucht als Student in Wien (1879 bis 1982) in die geistigen Strömungen seiner Zeit ein. Er versucht, dieses „Wien“ zu durchdringen. Besonders erscheint, daß er an der Technischen Universität studiert, und Brentano an der Wiener Universität hört, daß die Verbindung zwischen Philosophie und Geisteswissenschaften, Technik und Naturwissenschaften nie abreißt. Als Pädagoge wird er später fordern und durchsetzen, daß in einem wahrhaft allgemein bildenden Lehrplan die „zwei Welten“, wie sie C. P. Snow nennen wird, nicht getrennt werden dürfen. Steiner entscheidet sich für die Philosophie. Seine ersten Werke sind Hegel und Fi&ite, später Nietzsche gewidmet. Er ist ein Philosoph des deutschen Idealismus, dessen „Sprache“ er bis ans Ende nicht verliert. Ohne diese Tradition wird seine „Philosophie der Freiheit“ nicht verständlich, damit setzt er sich auseinander, sie führt er kreativ fort.

Der Dialog ermöglicht es ihm, später seine sozialpolitischen Reformideen (1919 bis 1921) so anzusetzen, daß er die Kluft zwischen Marxismus und Liberalismus erstmals überbrückt und überwindet; deren gegenseitige Positionen wurden zwar durch die demokratische Praxis zwischen den Kriegen, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, in verschiedenen gemeinsamen sozialpolitischen Maßnahmen überwunden, theoretisch aber erst in den sechziger Jahren aufgelöst, ohne den Betroffenen Freude zu bereiten. Die 68er Generation (in Deutschland) etwa entdeckt diese „Überbrückung“ nach dem Ende ihrer „Revolution“ — und sie „tröstete“ viele aus dieser Generation, der sie Anregungen für neuartige konstruktive Politik gab.

BESCHÄFTIGUNG MIT GOETHE

In diesen Lebensabschnitt Steiners gehört schließlich die kommentierte Ausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, die zu jenem Werk (fast zugleich mit der „Philosophie der Freiheit“) Anlaß gibt, das die großen philosophisch-künstlerischen Gedanken Steiners enthält und die wesentlichen Impulse für das Lebenswerk überhaupt gibt („Goethes Weltanschauung“). In ihm liegt die bedeutsamste, weiterführende methodische Innovation Steiners.

Schon auf der Höhe des „naturwissenschaftlichen Zeitalters“ entsteht mit Steiner der erste Warner vor seiner Überforderung, der erste geisteswissenschaftliche Kritiker des „Meßbaren“ und des „Äußeren“. Mit Steiner setzt erstmals philosophisch eine Gegenbewegung ein. Er will die Substanz, das Wesen, die Sa che ergründen und „Kenntnisse höherer Welten“ erlangen. Für die fioli tische Bewegung Nationalsozia- ismus war es über Martin Heidegger etwa möglich, die „Substanzphilosophen“ mehr oder weniger politisch zu „versuchen“ und sogar zu inkorporieren — nicht so (grosso modo) die Anthroposophen, die mit ihren verschiedenen Einrichtungen, vor allem der Schulen, dem Verbot des Regimes und schließlich der Auflösung zum Opfer gefallen sind.

Der Philosoph Steiner - übrigens erst nach seiner „Philosophie der Freiheit“ - konnte den Urausspruch der Philosophen, den Traum der deutschen Philosophen, in seiner Generation - übrigens auch in unserer Generation! — verwirklichen: er motivierte Tausende zu einer Bewegung, zu Taten, zu Gründungen von Einrichtungen auf anthroposophischer Grundlage. Philosophie wurde wieder „relevant“ (vergleiche das Wort Edmund Husserl!), wieder eine Grundlage menschlichen Verhaltens und menschlicher Haltungen (und nicht allein professoraler Kontroversen und intellektueller Strömungen), wieder ein Kulturfaktor. Der Schweizer Philosoph Walther Zimmerli nennt sein jüngstes Buch (1994) „Einmischungen. Die sanfte Macht der Philosophie“; und meint damit etwas von Steiners Art. Kein „akademischer Lehrer“, wurde Steiner, aber zum „Volksbildner“ und „Vortragenden“ gestempelt; wurde er zum „Praktiker“, zum „Esoteriker“, zum „Gnostiker“ - und es gibt keine vernichtenderen Urteile für einen „klas sischen“ Philosophen dieser Zeit, und des naturwissenschaftlichen Zeitalters. Daher wurde Steiner eben nicht zitiert; er wurde aus dem „main stream“ der Philosophie ausgeschaltet, in eine Art „Untergrund“ gedrängt, selbst in seinen „Denkmethoden“ (Bochenski) nicht beachtet. Nach 100 Jahren allerdings spielen Mechanismen der Eitelkeit keine Rolle mehr. Er wird auf der Basis seiner Texte und Taten neu gelesen und studiert und entdeckt.

Waren die Christian-Morgenstern- Verse an den Freund Rudolf Steiner „Du kannst keine Großen mehr ruhig verehren, mußt dich zugleichen seiner Narren erwehren“ noch an die Adresse der Theosophen und der ängstlichen „Bibelexegeten“ von Steinertexten im eigenen Lager gerichtet, so wären sie heute wohl für die „New-age“-Leute gedacht, die zu bekämpfen der Geisteswissenschaftler Steiner (wer übrigens sonst aus der Gilde unternimmt etwas?) aufgenommen hätte (hier ist der geschätzte Analytiker Schweidlenka zu korrigieren!). So halten seine Nachfolger bestimmten Gruppen der Okobewe- gung entgegen, daß trotz Entfremdungen und der Notwendigkeit einer Erneuerung in Zukunft Mensch und Natur in einem „partnerschaftlichen Verhältnis“ leben (sollen). Diese Beispiele sollen gelingen.

Sektionschef Dr. Raoul F. Kneucker ist Vorstandsmitglied der „Österreichischen Vereinigung freier Bildungsstätten auf anthroposophischer Grundlage“. Er betont, diesen Beitrag nicht als Vertreter ddr JValdorfbewegung verfaßt zu haben.

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