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Rudolf Steiner und die Anthroposophie

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Vom 28. November bis zum 2. Dezember wurde in der Wiener Hofburg der „öffentliche Goetheanum-Kongreß“ abgehalten. Veranstaltet wurde er von der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, Domach, Schweiz“, zusammen mit den Deutschen und österreichischen Landesgesellschaften der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“. Das Hauptthema hieß: „Anthroposophie und die Menschheitsaufgabe Europas“, die Vormittage aber standen unter einem Leitsatz, der uns schon mitten in unserer Betrachtung hineinführt.

„Wandlung des Menschen durch Anthroposophie“ ist nicht mehr und nicht weniger, als sich der Gründer der Bewegung, Dr. Rudolf Steiner, im Lauf seines Lebens zum Ziel gesetzt hat. Er wurde 1861 in Kraljevec, damals Österreich-Ungarn, heute Jugoslawien, als Sohn eines Eisenbahnbeamten geboren, besuchte die Realschule in Wiener Neustadt und studierte in Wien erst Naturwissenschaften, später Philosophie, um schließlich an der Universität Ro-

stock seinen Doktortitel zu erwerben. Ansässig war er damals schon in Weimar, wo er als Herausgeber von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften hervortrat.

In dieser Zeit schreibt Rudolf Steiner ein Buch, das, von ganz besonderer Tragweite, gleichsam die Quintessenz aller seiner späteren Gedanken enthielt. In seiner „Philosophie der Freiheit“ fordert er das Üben des „sinnlichkeitsfreien Denkens“, in dem die Seele des Menschen sich als Wesen in der Welt des Geistes erfährt. Und er fordert auf, die Wahrnehmung durch die bekannten fünf Sinne mit Seelenwahrnehmungen zu ergänzen; Ist der Mensch dann noch zusätzlich dazu imstande, in seinem als sinnlichkeitsfrei erübten Denken - das in keiner Weise von irgendwelchen Wünschen geleitet ist -, seine Wahrnehmungen mit den entsprechenden Begriffen zu verbinden, dann handelt er in Freiheit.

Mit dieser Forderung nach einem „Erüben“ des sinnlichkeitsfreien, des „reinen“ Denkens durch Konzentrationsübungen, die sich ihrem We

sen nach geistig-meditativen Zuständen nähern, da sie auf zunehmender Abstraktion von Gedankeninhalten aufgebaut sind, entfernt sich natürlich Rudolf Steiner von der „Amtsphilosophie“ der damaligen Zeit und nähert sich Bereichen, die bis dahin den Religionen Vorbehalten waren. Denn kein religiöser Mensch zweifelt an der Legitimität meditativen Denkens, Schauens, Fühlens oder Wollens.

Rudolf Steiner nennt sein Lehrgebäude „Geisteswissenschaft“. Schon seine „Philosophie der Freiheit“ trägt den Untertitel: „Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode.“ Was also im letztlich meditativen Erüben des sinnlichkeitsfreien Denkens erfahren wird, soll anschließend nach wissenschaftlichen Kriterien, wie sie eben in den Naturwissenschaften üblich sind, verifiziert und bestätigt werden. Erst dann kann man nach Steiner von ernsthafter „Geistesforschung“ sprechen, deren Forschungsgebiet auf Ebenen liegt, die dem nur rein intellektuell schließenden, deduktiven Denken ihrer Natur nach unzugänglich sind.

Am Beginn des Jahrhunderts lebt Steiner in Berlin und beginnt jene erstaunlich umfangreiche Tätigkeit als Schriftsteller und Vortragender, in deren Verlauf er seine Gedanken mehr und mehr differenziert, um sich schließlich nach anfänglicher Assoziation mit der „Theosophischen Gesellschaft“ von dieser zu trennen und sein Gebäude der „Anthroposophie“ als Geisteswissenschaft zu errichten.

Warum nun „Anthroposophie“? Er selbst drückt es ziemlich klar aus, wenn er schreibt: „Nicht Gedanken können die Rätsel der zeit Jösent der Mensch selbst ist die Lösung.“

Rudolf SteTner hat sich im Laufe seines Lebens - immer am Boden seiner Anthroposophie stehend - mit vielen Lebensbereichen beschäftigt. Von bedeutenden Einflüssen auf die bildende Kunst und Architektur, (siehe das von ihm entworfene Gebäude des „Goetheanum“ in Dörnach) bis zur „Eurythmie“, von seinen Ideen zur „Dreigliederung des sozialen Organismus“ bis zur Waldorfschule mit ihren zahlreichen Nachfahren, von der Medizin bis zur Landwirtschaft.

Als nach dem Ersten Weltkrieg einige unzufriedene protestantische Theologen zusammenfanden und der Steinerschen Anthroposophie begegneten, wurde unter Führung von

Friedrich Rittelmeyer unter bedeutender Geburtshilfe Steiners, die „Christengemeinschaft“ begründet. Der härteste Brocken, an dem man zu kauen hatte, war wohl der Einbau der von Steiner vertretenen Reinkarnationslehre in eine Form des Christentums, die sich ihrem Wesen nach deutlich vom Protestantismus in Richtung Katholizismus absetzte.

. Denn auch wenn man richtigerweise meint, Gott nicht vofschreiben zu können, wo ein Ort eventueller Läuterung nach dem Tode gelegen sein müsse, bereitet, was verstand-

lieh ist, die weitgehende Fixierung auf „wiederholte Erdenleben“ besondere Schwierigkeiten.

Besucht man andererseits den Gottesdienst der „Wiener Christengemeinschaft“ in der Mariahilfer Straße, sieht man sich einer, ihrer Struktur nach tridentinischen Messe gegenüber, die in deutscher Sprache und ohne jegliche aktive Beteiligung der Mitfeiernden auch des öfteren von „Priestern“ weiblichen Geschlechtes zelebriert wird.

1923 sagt Rudolf Steiner: „Die Anthroposophie soll ihre Tore zur Welt weit aufmachen ..Ein Kongreß wie der eben abgehaltene „öffentliche Goetheanum-Kongreß“, öffnet sicherlich ein Tor, wie weit, ist eine andere Frage. Und sicherlich gilt sowohl für die Anthroposophie als auch für ihre potentiellen Gesprächspartner die selbstverständliche Pflicht eines jeden Menschen, dem anderen soweit als immer möglich mit offenem Herzen entgegenzukommen, um so dem Anfang eines gegenseitigen Verstehens den Grund zu bereiten.

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