Die USA sind nicht mehr, was sie sind

Werbung
Werbung
Werbung

Samuel Huntington macht Schluss mit der Idealisierung des Demokratiebewusstseins der USA und der Einheit des Landes.

Freiheit und Gleichheit als zentrale politische und ökonomische Werte bestimmen das Demokratiebewusstsein der US-Amerikaner und ersetzen im politischen Denken "rechte" oder "linke" Ideologien. Dieser Amerikanismus (american creed) verhinderte lange Zeit eine ideologische Polarisierung und hat primär eine integrations- und identitätsstiftende Funktion. Zusätzlich zählen Nationalstolz und Patriotismus zu den Grundelementen der politischen Kultur in den USA. Historiker gehen davon aus, dass deshalb trotz aller ethnokulturellen und sozioökonomischen Unterschiede seit zwei Jahrhunderten eine stabiler demokratischer Konsens besteht.

Dekonstruktion der USA

Samuel Huntington, Doyen der Politikwissenschaft an der Harvard University, macht mit dieser Idealisierung des Demokratiebewusstseins und der Einheit des Landes Schluss. In seinem neuen Buch "Who Are We? Die Krise der amerikanischen Welt" belegt er detailliert sowohl die vielfältigen historischen Wurzeln der US-Identität als auch die Erosion der Identitätsfaktoren.

Noch immer verfügen die USA über die höchste Korrelation von Nationalstolz und der Wichtigkeit von Gottesbezügen. Letzterer jedoch ist zum religiösen Fundamentalismus geworden, der trennt anstatt integriert. Hinzu kommt eine sprachliche und ethnische Kluft, die weit über die mangelnde Vergangenheitsbewältigung der Sklaverei hinausreicht. Insbesondere hispanische Immigranten wünschen emotional keine Amerikanisierung, sondern Hispanisierung. Seit den 60er Jahren ist außerdem das öffentliche Vertrauen in Legislative und Exekutive von über 40 auf unter 20 Prozent gesunken. Konsequenz ist eine Re- oder Dekonstruktion der USA mit einer Fülle subnationaler Identitäten.

Vordergründig muss man Huntington zustimmen. Es war und ist kaum eine Gesellschaft derart von Ungleichheiten geprägt, so dass das Bild der Offenheit trügt. Das Zusammenleben der Gruppen ist durch hochgradige Ghettoisierung gekennzeichnet. Huntington wird auch empirisch bestätigt. Im Wahljahr 2004 präsentieren sich die USA als geteilte Nation, d.h. es ist eine weitgehende Polarisierung zwischen den politischen Lagern feststellbar.

Trotz einer Regierung der Republikanischen Partei mit der Kongressmehrheit in Repräsentantenhaus und Senat seit 1994 und der Wahl von George W. Bush 2000 gibt es eine tief gehende Spaltung. In den Präsidentschaftswahlen entschieden wenige Stimmen, die Mehrheiten im Kongress stützen sich seit einem Jahrzehnt auf wenige Sitze und sogar eine Addition aller Wahlen für den einzelstaatlichen Kongress in 50 Einzelstaaten ergibt nahezu eine Pattsituation des Stimmenanteils der Parteien. In Meinungsumfragen deklarieren sich jeweils etwa ein Drittel der Bevölkerung als Republikaner, Demokraten oder unabhängige Wähler.

Die USA haben eine Entwicklung der starken Grenzziehung zwischen Konservativen und gemäßigt Liberalen erlebt. Das führt nicht nur zu mehr Konfrontation und weniger Zusammenarbeit in der Politik, sondern auch zu analogen Empfindungen in der Bevölkerung. Nicht einmal kurzfristige Solidaritätseffekte nach dem 11. September - für Huntington kein Thema - konnten den Trend der ideologischen Spaltung unterbrechen. Das anschaulichste Beispiel: Die Zustimmungsraten für die Politik von Präsident Bush betragen mehr oder weniger 50 Prozent. Unter Republikanern erzielt er aber Werte von über 90 Prozent, mehr als Ronald Reagan je erreichte. Zugleich begrüßen unter 25 Prozent der Demokraten seine Amtsführung, weniger als Richard Nixon am Höhepunkt des Watergate-Skandals. Dieselbe Kluft prägt alle Politikbereiche.

Huntington - ein Prophet?

Was bedeutet all das? Nach der klassischen Literatur hat die US-Gesellschaft trotzdem Bestand, weil die eingangs erwähnte Freiheit und Gleichheit bzw. Amerikagefühl und Nationalstolz stärker sind. Das Spannungsfeld zwischen theoretischer Freiheit und praktischer Ungleichheit wird aber zum zentralen Problem der US-Gesellschaft und ihrer Politik. Der Mythos der Freiheit steht außerdem häufig in Widerspruch zum Staatsinteresse. Langzeitfolge des 11. September ist die Daueroption der Rechtfertigung undemokratischer Maßnahmen. Spieltheoretisch versucht man immer zukünftige Szenarien durchzudenken. In seinem Buch vom "Kampf der Kulturen" ("The Clash of Civilizations" and the Remaking of World Order 1996) hat Huntington das als Allererster getan. Fünf Jahre später wurde er ereignisbezogen zur prophetischen Legende. Berücksichtigt man Datenstand und Vorlaufzeit seines jetzigen Buches "Who Are We?", hat Huntington neuerlich vieles recherchiert, bevor der Terror ihn bestätigte. "Who are We?" lässt trotzdem Zukunftsperspektiven vermissen. Was, wenn nicht? Was sind die Konsequenzen des Identitätsverlustes?

Im Grunde sammelt Samuel Huntington lediglich Auszüge aus Studien, die als jahrzehntelangen Trend in den USA eine Multiplikation der Multikulturalität und des Auseinanderdriftens nach ethnischer Herkunft, religiöser Überzeugung oder politischem Vertrauen nachweisen. In der systematischen Sammlung und Vernetzung auf höchstem Niveau liegt Huntingtons Leistung. Allzu lange wurden Fakten des Verlustes des Freiheitsdenkens, der gesellschaftlichen Gleichheit und des sozialen Kapitals als demokratische Basis mit Stereotypen der gemeinsamen Grundwerte und/oder des Nationalstolzes verdrängt. Huntington löst diese Verdrängung mit tiefen Einblicken auf, bietet aber keinen Ausblick.

Eine Bilanz des Lesers ergibt kollidierende Grundwerte als Ideologieersatz, schwach konturierte nationale politische Institutionen und fehlende Verknüpfungen zwischen den Staatsgewalten bzw. zwischen Volk und Staat. Die Erklärung, dass ein solches System trotzdem als stabil angesehen wird, wurzelt im Phänomen einer starken Gesellschaft und eines schwachen Staates als zentrales Prinzip der politischen Tradition. Wird die Gesellschaft gemäß Huntingtons kaum widerlegbaren Thesen geschwächt, sind zwei Fragen negativ zu beantworten:

l Wie identifiziert man öffentliches Interesse?

l Wer bestimmt in welcher Form die politische Einflussnahme?

Die provokante Antwort: Das behauptete gesellschaftliche Allgemeininteresse ist alles andere als ein Produkt von im freien Wettbewerb agierenden Privatinteressen. Aufgrund ihrer dominanten Organisation und mit massivem Geldeinsatz herrschen in den USA politische Eliten über die breite Öffentlichkeit. Es regiert das Recht des Stärkeren. Mit Demokratie hat das immer weniger zu tun. So weit geht der Amerikaner Huntington freilich nicht.

Der Autor ist Politikwissenschaftler an der Uni Klagenfurt.

WHO ARE WE?

Die Krise der amerikanischen Identität Von Samuel P. Huntington

Europaverlag, Hamburg/Wien 2004 507 Seiten, geb., e 29,90

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung