"Wir warten auf Chinas Comeback"

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Er vermag mit der Kulturgeschichte der Skythen ebenso zu fesseln wie mit der Geschichte der Ernährung: der spanisch

Die Furche: Sie beginnen Ihr Buch "Civilizations" mit einer überraschenden These: Wie zivilisiert eine Gesellschaft sei, zeige sich nicht an ihrer Politik, Religion oder Ästhethik, sondern an ihrer Fähigkeit, die Umwelt neu zu gestalten. Wie ist das zu verstehen?

Felipe FernÁndez-Armesto: Die traditionellen Definitionen des Begriffs "Zivilisation" besitzen manche Nachteile: Sie sind nicht objektiv und werden leicht zu Checklisten, sodass Gesellschaften als "unzivilisiert" angesehen werden, wenn sie bestimmten Kriterien nicht entsprechen. Ich bemühe mich um einen objektiveren Zugang, indem ich analysiert habe, was so genannten zivilisierten Gesellschaften gemeinsam ist. Sie alle greifen in ihre Umwelt ein, damit sie den menschlichen Bedürfnissen besser entspricht. Eine sehr elementare Form finden wir bei den alten Skythen, die vor allem unterirdisch gebaut haben, weil sie es nicht wagten, die ökologische Balance ihrer Umgebung sichtbar zu zerstören. Auf einem höheren Niveau finden wir Gesellschaften wie die Ägypter, die monumentale Visionen entwickelt haben, die Landschaft zu modellieren: Sie bauten Straßen und Pyramiden. Schließlich haben wir Gesellschaften wie die unsere, die unglaubliche Energien darauf verwendet, die Natur dem Menschen anzupassen. Ich glaube aber nicht, dass die Gesellschaften, die am Anfang dieser Skala stehen, unzivilisiert sind. Entwickelte Zivilisationen sind ja nicht automatisch besser. Denn je stärker wir in die Natur eingreifen, umso größer ist das Risiko, sich selbst zu schaden.

Die Furche: Kann die Flut in Mitteleuropa so gedeutet werden, dass unsere hochzivilisierte Gesellschaft den Bogen überspannt hat?

FernÁndez-Armesto: Ich weiß nicht, ob man das als Rache der Natur bezeichnen kann. Aber eine Gegend, wo solche Katastrophen häufig vorkommen und die Menschen sicher nicht schuldlos sind, ist Bangladesch. Dort hängt die Abholzung ganzer Waldstriche eindeutig mit den regelmäßigen Überflutungen zusammen. Die Natur bleibt eben sehr mächtig, auch wenn wir sie durch unsere Eingriffe zivilisieren wollen.

Die Furche: Im Unterschied zu Ihrer Klassifikation von Kulturen richtet der amerikanische Politologe Samuel Huntington sein Augenmerk vor allem auf die Religion und spricht heute unter anderem vom westlichen, islamischen oder buddhistischen Kulturkreis. Können Sie seine Einteilung nachvollziehen?

FernÁndez-Armesto: Nein, denn Huntington ist nicht sehr konsequent. Er ist sich nicht einmal sicher, ob es sieben, acht oder neun Zivilisationen gibt. Er charakterisiert etwa das Christentum nicht als eine Zivilisation, sondern spricht von einem östlichen und einem westlichen Christentum. Das Resultat ist, dass in seiner Klassifikation Schweden und Spanier der selben Zivilisation zuzuordnen sind - sie sind eben keine Griechen. In der Kategorie "buddhistisch" finden sich Thais ebenso wie Kambodschaner. Davon abgesehen ist er gar nicht sicher, ob die buddhistische Zivilisation überhaupt eine ist. Er weiß auch nicht, ob Lateinamerika eine eigene Kultur ist oder zum Westen gehört. In religiöser Hinsicht hat die lateinamerikanische Kultur ein ähnliches Profil wie der Großteil von Europa. Der ausgeprägte Katholizismus ist hier die Volksreligion. Ganz davon abgesehen ist die vermeintlich christliche Kultur des Westens längst säkularisiert. Huntington hat ein interessantes Buch geschrieben, aber ich glaube nicht, dass sein System funktioniert.

Die Furche: Sie sind also kein Fan?

FernÁndez-Armesto: Ich bin ein großer Fan. Man braucht ja nicht Recht zu haben, um gut zu sein. Die großartigsten Bücher sind solche, die den Leser stimulieren, aber falsch sind. Das ist wie in einer Ehe: Lieber ein schöpferischer Irrtum als die langweilige Wahrheit Ich bin ein großer Bewunderer von Huntington - aber er hat Unrecht!

Die Furche: Auch mit seiner These vom möglichen "Clash of Civilizations"? Viele sehen sie durch die Anschläge vom 11. September bestätigt ...

FernÁndez-Armesto: Ich glaube nicht, dass der 11. September irgend etwas mit dem "Clash of Civilizations" zu tun hatte. Die Terroristen waren in keiner Hinsicht repräsentativ für die islamische Kultur und die Opfer nicht für die westliche. Das ist ein typisches Beispiel dafür, wie Menschen Ausreden für Konflikte finden. Wir brauchen aber keine globalen Gründe für Konflikte. Die Periode, wo wir globale ideologische Konflikte hatten, war eine sehr untypische Phase in der Weltgeschichte - die Zeit vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zum Ende des Kalten Krieges. Ich sehe keine Anzeichen, dass wir uns jetzt in einer neuen Phase globaler Konflikte befinden sollten. Die Terroristen vom 11. September hatten alle möglichen Gründe, die rechtfertigen sollten, was sie getan haben. Aber keiner von ihnen kann auf einen "Clash of Civilisations" zurückgeführt werden.

Die Furche: Dennoch fürchten viele, dass sich die kulturellen Bruchstellen vertiefen könnten und fordern einen verstärkten Dialog der Kulturen ...

FernÁndez-Armesto: Das fordere auch ich, denn Huntington könnte Recht behalten, wenn wir die multizivilisatorische Welt ebenso nachlässig behandeln wie die multikulturelle Gesellschaft. Gerade in Österreich scheint das ja problematisch zu sein. Doch multikulturelle Gesellschaften und eine multizivilisatorische Welt eröffnen die Chance, sich gegenseitig zu bereichern. Deshalb propagiere auch ich den Dialog der Kulturen. Es wird aber nie zu einer Melange, einer globalen Kultur kommen - aus zwei Gründen: Erstens müsste es zu einer kulturellen Globalisierung kommen. Doch sobald Menschen große politische oder kulturelle Einheiten kommen sehen, werden sie sich stärker ihrer eigenen Identität bewusst. Wir machen diese Erfahrung gerade in der Europäischen Union mit ihren nationalistischen Gegenreaktionen. Der zweite Grund ist, dass eine globale Kultur immer nur eine zusätzliche Kultur sein würde, aber nie die anderen ersetzen könnte.

Die Furche: Gegenwärtig wird die "westliche Zivilisation" als dominant erachtet. Was ist Ihrer Meinung nach das Geheimnis ihres Erfolgs?

FernÁndez-Armesto: Im historischen Kontext besehen existiert diese Vorherrschaft erst seit kurzer Zeit, nämlich seit rund 150 Jahren. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts rangierten Europa und Nordamerika weit hinter China. So hat man im Westen wesentliche chinesische Erfindungen wie das Papiergeld einfach übernommen. Die wichtigste Frage heute ist also: Was ist mit China passiert? Ausschlaggebend waren viele Gründe. China hat in den letzten 200 Jahren geschlafen und ist bis heute nicht wirklich aufgewacht. Schuld war zum einen die wirtschaftliche Stagnation: Man hat zwar seine Aufgaben brav erledigt, sich aber nicht besonders angestrengt, innovativ zu sein. Der zweite Grund ist politisch: Seit 1796, dem Ende der Herrschaft von Qianlong, dem letzten kompetenten Regenten, hatte China wenig Glück mit seinen Regierungen. Im Namen der Revolution wurden schlechte Regierungen durch noch schlechtere ersetzt. Und diese Phase ist noch immer nicht überwunden. Momentan findet zwar eine wirtschaftliche Liberalisierung statt, aber das politische System ist noch immer das alte.

Die Furche: Dennoch gehen Sie davon aus, dass China aus seiner Lethargie erwachen wird ...

FernÁndez-Armesto: Ja, aber vielleicht dauert es bis dahin noch eine ganze Weile. Es ist sehr schwer vorauszusagen, wann China seine eigentliche Größe wiedererlangen wird. China muss jedenfalls zu seiner normalen Rolle als große, innovative, einflussreiche und mächtige Weltkultur zurückkommen. Diese Rolle hat das Land immerhin 3.000 Jahre lang gespielt. Wenn man die wesentlichen Charakterisika der chinesischen Kultur betrachtet, sind die Voraussetzungen dafür jedenfalls gegeben: In China finden wir noch immer eine Kultur, die sich mehr oder weniger mit dem Staat deckt; China wächst demographisch gesehen ungeheuer an und hat noch immer eine eindrucksvolle kulturelle Tradition, die es in der Vergangenheit innovativ gemacht hat. Das konnte nicht einmal der Maoismus zunichte machen.

Die Furche: Ihr Faible für diese Kultur scheint groß zu sein. Wären Sie lieber als Chinese zur Welt gekommen?

FernÁndez-Armesto: Ich bin sehr glücklich, dass es nicht so ist. Vermutlich würde ich es hassen, denn ich bin nicht konformistisch genug. Auch ist die politische Lage zur Zeit sehr instabil. Deshalb hege ich keine ausgeprägten Gelüste, ein Chinese zu sein. Außerdem fühle ich mich in England sehr wohl, denn ich bevorzuge ein kühles Klima.

Das Gespräch führte

Doris Helmberger.

"Entwickelte Zivilisationen sind nicht automatisch besser!"

Felipe Fernández-Armesto: "Ich bewundere Huntington - aber er hat Unrecht!"

Provokateur auf

Kulturensuche

Seine Bücher erstrecken sich meist über eben so viele Jahre wie Seiten: In "Millenium" präsentierte der Historiker Felipe Fernández-Armesto auf 908 Seiten die Weltgeschichte der letzten tausend Jahre. In "Civilizations" wagte er eine üppige Studie über die Beziehung zwischen Zivilisation und Umwelt. Und in "Near a Thousand Tables" legte er nichts weniger als eine Entwicklungsgeschichte der Ernährung vor. Dass es Fernández-Armesto versteht, die vermeintlich trockene Historie in eine "smart art" zu verwandeln ("The Times"),beweisen schon die Reichweiten seiner Bücher: Bisher wurden sie in 22 Sprachen übersetzt. Aufsehen erregte vor allem eine zehnteilige Fernsehserie über "Millennium", die auf CNN und BBC ausgestrahlt wurde. Der aus Galizien stammende Spanier, der in London lebt, unter anderem an der Fakultät für moderne Geschichte an der Universität Oxford lehrt und im englischen P.E.N.-Komitee sitzt, bezeichnet sich selbst gern als "berufsmäßiger Provokateur". Dass dem so ist, bewies Fernández-Armesto auch im Rahmen der Alpbacher Technologiegespräche, wo er vor heimischen Spitzenmanagern ein launiges Referat zum Thema "Why did the best win?" hielt. "Der Westen mag vielleicht der beste im Kriegeführen sein", stellte der Historiker trocken fest, "aber er ist wohl nicht der beste im Liebemachen." Erfindungsgeist allein sei jedenfalls nach Fernández kein Garant für eine Zivilisation, um an der Spitze zu bleiben. Man müsse die Innovationen auch nutzen. So habe China zwar einst das Papiergeld erfunden, zur Blüte gebracht habe es jedoch der westliche Kapitalismus.

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