Indianer in der Gen-Falle

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Die Indianer Argentiniens sollen ihr Steinzeit-Leben aufgeben, fordert die Agrarindustrie - aber die Wichís weigern sich.

Argentiniens Bundesstraße 86 ist ein schlammiger Dschungelpfad. Feuchte Zweige schnalzen auf die Windschutzscheibe. Es riecht nach nassem Laub und modrigem Holz. Die Straße führt von der Stadt Tartagal im äußersten Norden Argentiniens in das noch wenig erschlossene Grenzgebiet zu Paraguay. Auf einer Lichtung steht, umringt von einer Gruppe ärmlich gekleideter Menschen, ein weißer Chevrolet Pritschenwagen: Opfer einer Entführung.

Die Kidnapper verlangen kein Lösegeld. Sie wollen nur, dass man sie und ihren Wald in Ruhe lässt. "Wir haben wirklich alles unternommen, um eine friedliche Lösung zu finden. Wir waren bei der Polizei und vor Gericht, aber man wollte uns nicht hören. Warum hilft man uns nicht, wo wir doch auch Argentinier sind?" Der Wichí-Indianer Juan Galarza beteuert, dass alle friedlichen Mittel versucht wurden: "Dann kamen die Unternehmer. Dreimal haben wir sie davor gewarnt, Zäune aufzustellen aber schließlich mussten wir ihnen das Auto wegnehmen." Der Zaun lief quer durch den Lebensraum der Gemeinde Tonono, wo mehrere Dutzend Familien vom Volk der Wichí leben. Über Nacht hatten die Dorfbewohner sechs Kilometer Zaun abmontiert. Als ein Vorarbeiter des Waldeigentümers kam, umstellten die Leute das Fahrzeug und ließen die Luft aus den Reifen. Der Mann wurde zu Fuß weggeschickt.

Die letzten Jäger & Sammler

In der Provinz Salta, im Norden Argentiniens, wo indianische Völker wie die Wichís noch leben wie vor 500 Jahren, dringt die Welt der Weißen, die jedes Stück Land der Logik des Gewinnstrebens unterwirft, unaufhaltsam vor. Die Wichí gehören zu den letzten Jägern und Sammlern im Gebiet der argentinischen Chaco. Noch vor 100 Jahren lebten die Wichís, die Chorotes, die Tobas und andere indigene Völker weitgehend ungestört. Zumindest jene, die die Ausrottungsfeldzüge Ende des 19. Jahrhunderts überlebt hatten.

Der Gran Chaco ist eine riesige, 800.000 Quadratkilometer (zehnmal so groß wie Österreich) weite Landschaft zwischen den Kordilleren und den großen Flüssen Paraguay und Paraná. Der größte Teil, ein subtropisches, von Buschwald und Dorngehölzen bewachsenes Gebiet, liegt in Argentinien. Den Rest teilen sich Bolivien und Paraguay. Ab 1903 verschenkte die Regierung Ländereien an Pioniere aus anderen Landesteilen, die sich in der unwirtlichen Gegend eine Existenz aufbauen wollten. Es galt, die Grenzregion zu Paraguay und Bolivien durch Besiedlung vor Gebietsansprüchen der Nachbarn zu sichern. Die "Eingeborenen", wie man die Indigenen noch heute vielfach nennt, galten nicht als argentinische Bevölkerung. Sie waren keine gleichberechtigten Staatsbürger.

Flexibler als andere Indianer

"Die Wichís sind ganz anders als die Andenvölker, sie haben eine viel klarer strukturierte Weltsicht", weiß der britische Ethnologe Christopher Wallis: "Die Wichís sind weit flexibler. Sie weichen der Konfrontation aus. Dank ihrer Flexibilität sind die Wichís von den Völkern des Chaco jenes, das seine Sprache und seine Traditionen am meisten bewahrt hat. Doch auch die Flexibilität der friedliebenden Wichís hat ihre Grenzen, wenn durch ihre Jagdgebiete Zäune gezogen werden und Bagger beginnen, ihre Wälder plattzuwalzen.

Abholzung = Entwicklung?

Rein juristisch war die Gemeinde Tonono im Unrecht: Die Ländereien in der Gegend des Río Itiyuro sind schon lange in privater Hand. Allerdings war deren kommerzieller Wert gering. Jahrzehntelang ließen die Grundeigentümer ihre Parzellen brachliegen. Dass dort indianische Gruppen lebten, störte sie nicht. Doch der hohe Preis von Sojabohnen in den letzten Jahren bewirkt, dass auch auf den kargen Böden des Chaco mit Gewinn angebaut werden kann. Der Busch, der den Indigenen als Nahrungsquelle dient, wird zuerst niedergewalzt und dann abgefackelt. Die meisten Agrarunternehmer holen nicht einmal die Edelhölzer heraus. Das dauere zu lange und sei daher nicht rentabel.

Da treffen zwei Welten aufeinander, die zu verschieden sind, um einander zu verstehen: Roberto Cha Usandivaras, ein Mann, dessen spanischer Stammbaum sichtlich durch keinen Tropfen indianischen Blutes getrübt ist, fungiert als Vorsitzender eines Agrarunternehmerverbandes. Er sieht die Abholzungen als Teil einer Entwicklungsstrategie: "Hier in Salta leben drei Prozent der argentinischen Bevölkerung, aber wir tragen nur eineinhalb Prozent zum Bruttosozialprodukt bei. Nur zehn Prozent der Fläche sind landwirtschaftlich genutzt - gegenüber 70 bis 80 Prozent im nationalen Durchschnitt. Das zeigt, dass die Entwicklung hier hinterherhinkt. Wir müssen also die Agrargrenze vorantreiben."

Gutes Geschäft mit Gen-Soja

Roberto Cha ist im nationalen Vergleich nur ein mittlerer Exporteur von transgener Soja, aber als Vertreter von Agrarchemie-und Saatgut-Giganten verdient er bei der Expansion der Monokulturen kräftig mit. Praktisch alle Soja, die hier angebaut wird, ist genmanipuliert und geht in den Export. Die paar Indios, so fordern die Agrarunternehmer, sollen ihre steinzeitliche Lebensweise aufgeben und am Fortschritt mitnaschen: als Produzenten von Kunsthandwerk oder als Lohnarbeiter auf den Farmen. Das Argument, dass die Aktivitäten der Agrar-Industrie dem Gemeinwohl diene, da sie mit ihrer großflächigen Exportproduktion Arbeitsplätze schaffe, steht aber auf wackligen Beinen. Nach Schätzungen der Autonomen Universität von Salta beschäftigen 1000 Hektar Soja gerade einen Mann, maximal zwei. Und das sind Facharbeiter, die komplizierte Saat-und Erntemaschinen bedienen können.

Mythos der "weißen Nation"

Pablo Frere, der regionale Leiter der Organisation Fundapaz, die sich, unterstützt von Hilfswerken wie Misereor oder Brot für die Welt, für soziale Entwicklung einsetzt, sieht auch andere Aspekte: "Die indigenen Völker hatten nie gedacht, dass sie Landtitel brauchen oder ein Papier, das ihre selbstverständlichen Ansprüche bescheinigt." Für die Indigenen ist es unvorstellbar, dass sich jemand für den Herrn des Landes hält. Sie haben eine andere Beziehung zum Land. Erst zögernd hat die argentinische Gesellschaft den archaischen Ansprüchen der lange verleugneten Ureinwohner Rechnung getragen.

"In unserem Land herrschte die Vorstellung, dass Argentinien ein Land mit vorwiegend europäischer Bevölkerung ist, als Resultat der Einwanderung". Rodolfo Matarrollo, Staatssekretär für Menschenrechte im Justizministerium, kennt diesen Mythos von der weißen Nation nur zu gut: "Dass es da noch andere Bevölkerungsgruppen gibt, nämlich die, die unsere Verfassung nach der Reform von 1994 indigene Völker nennt, wurde kaum wahrgenommen." Die Vorstellung, dass diese aus dem kollektiven Bewusstsein der Nation verdrängte Minderheit Landrechte genießen sollte, setzte sich erst langsam durch. Erst vor elf Jahren wurden die indianischen Rechte ausdrücklich verfassungsmäßig anerkannt.

Verfassung auf Indianerseite

So konnte die Wichí-Gemeinde Lapacho Mocho, unweit von Tonono, durchsetzen, dass die Provinzregierung 3000 Hektar, die bereits zur Rodung abgezäunt wurden, wieder zu ihren Gunsten enteignete. Allerdings ist das Land bis heute nicht übergeben, denn der Wert der Liegenschaft wurde in verschiedenen Gutachten unterschiedlich bewertet und die Eigentümer setzten alle Hebel in Bewegung, um das Verfahren in die Länge zu ziehen. In Tonono ist eine Enteignung nicht vorgesehen.

Die "Kidnapper" des weißen Chevrolet warten letztlich vergeblich auf den Agrarunternehmer, der ihre Jagdgebiete niederbrennen will. Er kann sich darauf berufen, das Land rechtmäßig erworben zu haben. Er schickt die Polizei, die das Fahrzeug mit Tränengas und Waffengewalt herausholt. Der Indianer José Galarza wird schwer verletzt: Schrotmunition zerfetzt seine Hand, in seinem Körper stecken Gummigeschosse. Die Umzäunung ihres Jagdgebietes wollen die Wichís trotzdem nicht zulassen. Wenige Wochen später prügeln sie zwei Gendarmen krankenhausreif. Aber damit ist das letzte Kapitel im Kampf um den Busch noch nicht geschrieben. Die Wichí haben zwar die Verfassung auf ihrer Seite, doch der Verfassungsgerichtshof in Buenos Aires ist weit. Bis sie ihre Ansprüche durchsetzen können, wird ihr Lebensraum vielleicht schon verschwunden sein.

Der Autor ist freier Journalist.

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