"Wir ernten, was wir gesät haben"

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Fatih Akins Film "The Cut" behandelt ein traumatisches Kapitel in der türkischen Geschichte: 1915 wurden Hunderttausende Armenier vertrieben und ermordet -ein Verbrechen, das international als Völkermord gilt, nur in der Türkei bis heute lieber totgeschwiegen wird. Fatih Akin, der deutschtürkische Regisseur aus Hamburg, greift damit ein brisantes Thema auf - und bekam im Vorfeld Morddrohungen.

Die Furche: Warum hat das Thema Völkermord bis heute niemand in der Türkei verarbeitet? Hat das gesellschaftliche Gründe?

Fatih Akin: Es hat vielleicht historische Gründe. Es hat mit der Gründung der modernen Türkei zu tun. Das osmanische Reich war jahrhundertelang eine Monarchie, aus der 1923 eine Republik wurde. Atatürk musste komplett bei null anfangen: Der Islam hatte dort plötzlich nichts mehr verloren, Frauen bekamen das Wahlrecht, das westliche Alphabet ersetzte das arabische. All das waren sehr radikale Änderungen. Die Gründerväter hatten damals keine Zeit oder sahen keine Notwendigkeit, die Schmerzen der Vergangenheit zu verarbeiten -man wollte das schnell vergessen, teilweise auch unter Zwang. Man drückte auf reset und machte einen neuen Staat. Aber Menschen sind nun mal keine Maschinen. Die Furche: Sie erhielten Morddrohungen

Akin: Es gab einen Tweet einer politischen Splittergruppe, der ankündigte, alles gegen einen regulären Filmstart in der Türkei zu unternehmen. Aber im Augenblick sieht es sogar ganz gut aus, dass der Film großflächig in der Türkei startet, mit Popcorn und allem, was dazugehört.

Die Furche: Dabei ist es nicht unbedingt ein Popcorn-tauglicher Film

Akin: Das Thema hat eine gewisse Schwere, weshalb ich versucht habe, den Stoff so zugänglich wie möglich zu erzählen, weil ich einfach vielen Menschen damit bewusst machen will, was damals passiert ist. Es ging mir nicht darum, künstlerische Grenzen auszuloten, ich brauchte dazu also keine acht Minuten lange Vergewaltigungsszene ohne Schnitt Dennoch ist die Darstellung von Gewalt obligatorisch, wenn man einen Film über einen Völkermord dreht. Wir haben uns lange überlegt, wie wir diese Gewalt für den Zuschauer noch erträglich machen können. Wir wollten nicht die Würde der Opfer aufs Spiel setzen.

Die Furche: Inwieweit leiden Gesellschaften an solchen unaufgearbeiteten Ereignissen?

Akin: Sehr. Die Geschichte meines Films hat mit einem Trauma zu tun, einem psychologischen Trauma. Es gibt Traumata von Individuen, die lässt man beim Psychiater oder Therapeuten behandeln. Man stellt sich dem Trauma, konfrontiert sich, damit es aufhört und sich nicht wiederholt. Was für den Einzelnen gilt, gilt mit Sicherheit auch für eine größere Gruppe von Menschen oder gar für ganze Gesellschaften. Solche Traumata müssen verarbeitet werden, sonst gibt es Zustände, wie wir sie heute im Nahen Osten sehen. Was wir dort heute sehen, und mit "wir" meine ich den Westen, sind nichts anderes als unverarbeitete Traumata. Das Osmanische Reich war mit Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich assoziiert, und man kämpfte gegen Frankreich, England und Russland. Eine Schlacht, die man verlor -der Nahe Osten wurde hernach als "Beute" quasi aufgeteilt, und zwar relativ willkürlich. Im Atlas haben sie die Grenzen mit dem Lineal gezogen. Genau da setzt der IS an, für den diese Grenzen schlicht nicht gelten. Und das nur, weil man den Scherbenhaufen, den man angerichtet hat, nie aufgeräumt hat. Heute ernten wir das, was wir damals gesät haben.

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