Die alten Schubladen sind nutzlos geworden

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Interessenvertreter sind Lobbyisten, die nicht auch noch über ihre eigenen Anliegen im Parlament abstimmen dürfen.

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Interessenvertreter sind Lobbyisten, die nicht auch noch über ihre eigenen Anliegen im Parlament abstimmen dürfen.

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Die aus dem Altfranzösischen stammende Bedeutung des Wortes Parlamentarismus weist auf das erörternde Sprechen hin, das im Sinne der Vertretung des gesamten Volkes stattfinden soll. Formal ist dieses Ziel insofern erreicht, als sich das Mandat jedes unserer Abgeordneten auf allgemeine und freie Stimmabgabe stützt. Die Verfassung verlangt aber, dass es auch frei auszuüben ist! Wer das Vertrauen der Wähler gewonnen hat, soll nur mehr seinem Sachverstand, Werturteil und Gewissen gehorchen. Die Menschen spüren und missbilligen, dass im krassen Gegensatz dazu Parlamentsdebatten ein ritualisiertes Hinausreden beim Fenster sind, um das zu preisen oder zu verdammen, was vorher von Funktionären beschlossen wurde. Und das allzu oft nicht auf parlamentarischem Boden.

Zwei Instanzen nehmen den Abgeordneten ihre Entscheidungsfreiheit. Die erste ist die Partei. Ist sie an der Regierung, sitzen ihre Spitzen auf der Ministerbank und geben den Ton an. Die Kontrolle der Regierung durch das Parlament wird zur umgekehrten Situation pervertiert. Das ist nicht nur in unserem Lande so, wurde aber hier durch die Macht der Sozialpartner als zweite Fessel eines freien Parlamentarismus verschärft. Dem lieben sozialen Frieden zu Willen. Jahrzehnte lang war es möglich, dass ein Abgeordneter seine Rede mit den Worten "Wir Eisenbahner" oder "Ich als Vertreter der Gewerbetreibenden" beginnen und damit dokumentieren konnte, dass er nicht das Volk, sondern nur einen Teil davon repräsentierte. Aber die einst tragende Säule des Konsenses von roten Arbeitnehmer- und schwarzen Wirtschaftsvertretungen ist brüchig geworden. An die Stelle der alten Klassengegensätze ist weltweit ein unendlich komplexes Gewirr von Interessenlagen getreten. Es lässt sich von beruflichen Großorganisationen überhaupt nicht mehr einfangen. Die Menschen stehen überdies allen Institutionen, die kraft (historischer) "Sendung" ihren Wahrheitsanspruch erheben, immer misstrauischer gegenüber. Neue Freiheiten wurden errungen, neue Abhängigkeiten sind entstanden. Die Behauptung, irgend etwas entspreche oder widerspreche den "Interessen der Arbeitnehmer" oder der "Wirtschaft" erweist sich bei näherer Prüfung meist als Schimäre. Unsere Gesellschaft gleicht einem verzweigten kommunizierenden Gefäß. Niemand kann für eine Gruppe Nutzen ziehen, ohne anderen Nachteile zuzufügen. Und die treffen, wenn man Standesvertretern das Steuerruder in die Hand gibt, schließlich die Allgemeinheit. Der beste Beweis dafür ist der klägliche Zustand unserer Staatsfinanzen.

Eigentlich treffen bis heute die großen Verbände ähnlich wie Parteien politische Entscheidungen. So werden sie zur "Nebenregierung", wenn Übereinstimmung mit der Parlamentsmehrheit besteht, sonst zur zweiten Opposition. Der Unterschied ist nur der, dass es den Interessenvertretungen an der demokratischen Legitimation zur Findung des Gemeinwohls fehlt. Sie haben oder hätten spezifische Anliegen von Gruppen zu vertreten. Als Lobbyisten also. Dass es unvereinbar ist, in einer Person im Parlament dann darüber auch zu entscheiden, wird immer peinlicher sichtbar. Die Volksvertretung muss den Blick auf alle richten - Junge und Alte, Menschen vor, nach oder neben einem Erwerb, Bedürftige und Erfolgreiche, Behinderte und Leistungsfähige. Kultur und Umweltschutz sind zu wahren.

Da werden die alten Schubladen nutzlos, in die man uns Österreicher sehr lange hineingestopft hat. Eine neue, sach- und wertbezogene Sicht der Probleme unseres Gemeinwesens ist gefragt. Partnerschaft und Solidarität bleiben unverzichtbare Werte. Als Grundhaltung, aber nicht als Etikett für ein Machtkartell von Organisationen, die teilen und herrschen wollen. Wer das ignoriert, verliert den Anschluss an den demokratischen Fortschritt, der gerade im Parlament sein Abbild finden muss.

Der Autor war Generalsekretär der ÖVP, Bundesobmann des ÖAAB und Volksanwalt.

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