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PAUL TILLICH / VERKUNDIGUNG FUR UNSERE ZEIT

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„Der Friedenspreis des deutschen Buchhandels konnte keinem Würdigeren zuteil werden als dem großen Seelsorger des innerlich ringenden Menschen von heute, dem Deutschen und Amerikaner, dem Theologen und Philosophen Paul Tillichr Mit diesen Worten beschloß Bischof Dibelius die Laudatio auf den 76jährigen Gelehrten, der am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche mit der hohen Auszeichnung des Friedenspreises 1962 des deutschen Buchhandels bedacht wurde.

Die gegenwärtige evangelische Theologie ist durch das Werk der drei „großen alten Männer“ bestimmt: Karl Barth, Rudolf Bultmann und Paul Tillich. Barth und Bultmann haben seit langem Schule gemacht. Tillichs Einfluß ist erst seit dem Ende des zweiten Weltkrieges zum entscheidenden Durchbruch gelangt.

Das hängt mit dem Lebensgang Tillichs zusammen. Der 1886 in einem kleinen Ort in der Nieder*-lausitz geborene Pfarrerssohn ist durch Herkunft und Neigung für Philosophie und Theologie bestimmt. Die entscheidenden philosophischen Anstöße kommen aus der Beschäftigung mit Schelling, unter den theologischen Lehrern beeinflußt ihn besonders Martin Kahler. Schelling öffnet ihn für den „existentialistischen Protest“, für Kierkegaard und Nietzsche, Marx und Sigmund Freud und die verschiedenen philosophischen Mo-, tive, die etwas ungenau mit dem Stichwort Existentialismus zusammengefaßt werden. Sein wissenschaftlicher Weg führt ihn an mehrere deutsche Universitäten, wo er Theologie und Philosophie lehrt. 1933 wird er in den zwangsweisen Ruhestand versetzt und folgt einer Einladung nach den USA.

Tillich war wohl schon vor dem zweiten Weltkrieg durch eine Fülle von Veröffentlichungen bekannt. Das Erscheinen seiner „Systematischen Theologie“ nach 1945 aber kam einer sensationellen Wiederentdeckung gleich. Hier waren Ansätze gegebe, die aus manch einer Sackgasse der Nachkriegstheologie herausführten. Die Kritiken sprechen von dem bedeutendsten theologischen System seit Schleiermacher. Seine Wirkung beginnt immer mehr über den engeren Bereich der wissenschaftlichen Theologie hinauszugehen.

Der schnelle Erfolg der Theologie Tillichs ist zum Teil der Tatsache zuzuschreiben, daß seine „Systematische Theologie“ im rechten Zeitpunkt erschien. In der gegenwärtigen evangelischen Theologie ist die Tendenz vorhanden, zu den von Karl Barth verworfenen Fragestellungen der theologischen Tradition zurückzukehren. Eben das aber geschieht in dem Werk Tillichs. Es ist durch eine Offenheit nach allen Seiten hin gekennzeichnet, durch das Bemühen, allen philosophischen und theologischen Motiven gerecht zu werden. Jedoch wird nicht einfach die Tradition repristiniert; vielmehr gelingt gerade das — scheinbar ganz mühelos —, was so viele zeitgenössische Theologen unter großen Anstrengungen und zumeist vergeblich anstreben: Die Umsetzung der christlichen Botschaft in das Denken und Leben unserer Zeit, ohne daß dabei die Substanz des Evangeliums preisgegeben wird.

Hinter dem Werk des Philosophen und Theologen Tillich steht die religiöse Erfahrung, daß Gott die Gottlosen rechtfertigt. In Verzweiflung und Vernichtung der Existenz erscheint nicht das totale Nichts, sondern es wächst der „Mut zum Sein“. Mitten in der Abwesenheit Gottes erscheint der andere, größere, verborgene Gott, der „Gott über Gott“, der Gott der Gottlosen. Tillichs Werk ist der Versuch, das Paradox des Christus in seiner bestürzenden und heilenden Kraft zu vermitteln. Das sichert ihm, trotz aller Kritik im einzelnen wie im ganzen, einen bleibenden Platz in der Geschichte der Theo-logia perennis.

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