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Das ambivalente Mysterium

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Vor 100 Jahren erschien Rudolf Ottos bahnbrechende Schrift "Das Heilige", wo er das Göttliche als "Mysterium tremendum et fascinosum" chrakterisiert - als Geheimnis, das fürchten lässt und gleichzeitig fasziniert.

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Vor 100 Jahren erschien Rudolf Ottos bahnbrechende Schrift "Das Heilige", wo er das Göttliche als "Mysterium tremendum et fascinosum" chrakterisiert - als Geheimnis, das fürchten lässt und gleichzeitig fasziniert.

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Dass die Erfahrung des Heiligen sowohl mit einer furchtbaren Erschütterung als auch mit einem Entzücken verbunden ist, hat der Marburger Theologe Rudolf Otto der Theologie und Religionswissenschaft des 20. Jahrhunderts in seinem Bestseller Das Heilige eingeschärft. Das Buch mit dem Untertitel Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen erschien im Jahre 1917 während des Ersten Weltkriegs und beeinflusste eine ganze Generation von Theologen und Religionswissenschaftlern. Es begründete die Religionsphänomenologie, eine wichtige religionswissenschaftliche Forschungsrichtung im 20. Jahrhundert. Ottos fulminanter Klassiker erlebte nicht nur zahllose Auflagen, es wurde auch in viele Sprachen übersetzt.

Geboren wurde Rudolf Otto 1869 in einem frommen lutherischen Elternhaus im niedersächsischen Peine. Schon früh entschloss er sich, protestantische Theologie zu studieren und wählte das lutherisch geprägte Erlangen als Studienort. Zuvor besuchte er für ein Semester die liberale Göttinger Fakultät, an die er 1891 wieder wechselte, um sein Studium abzuschließen. Die Studienorte verraten ein hochgradiges religiöses Orientierungsbedürfnis bei dem jungen Otto. Dem entspricht seine Lust am Reisen. Zeitlebens ist er vom Fremden und Anderen fasziniert. Mehrfach unternimmt er zusammen mit Studienfreunden ausgedehnte Reisen in die weite Welt. In den Nahen Osten bricht er erstmals im Frühjahr 1895 auf. Eindrücklich sind ihm tanzende Derwische in Kairo sowie koptische Gottesdienste.

1898 wurde Otto mit einer Arbeit über Die Anschauung vom heiligen Geist bei Luther an der Göttinger Fakultät promoviert. Die Grundzüge seines späteren Werks über das Heilige begegnen bereits hier. Es ist Luthers machtvolle Paradoxie des Gottesgedankens, dass Gott tötet, um lebendig zu machen, die hinter dem Mysterium tremendum et fascinosum aus Das Heilige steht. Auch in Friedrich Schleiermachers berühmten Reden Über die Religion fand er diesen Gedanken. In den folgenden Jahren publizierte der junge Theologe zahlreiche Abhandlungen, in denen er den Gedanken einer modernen Religionstheorie auf religionspsychologischer Grundlage entfaltete. Grundlegend, auch für die in Das Heilige ausgeführte Religionstheorie, ist sein Buch Kantisch-Fries'sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie (1909). Ein Jahr nach Beginn des Weltkriegs wurde Otto auf eine Professur für Systematische Theologie an der Universität Breslau berufen und 1917, im Jahr des Erscheinens seines Hauptwerks, an die Universität Marburg.

Gott ist der ganz Andere

Den modernen Religionsdeuter faszinierte zunehmend die Welt der Religionen, allen voran der Hinduismus. Die persönlichen Kontakte mit Vertretern der unterschiedlichen religiösen Traditionen, die er auf seinen Reisen knüpfte, eröffneten ihm eine neue Welt. 1920/21 gründete der unter häufigen Depressionen leidende Religionssucher den Religiösen Menschheitsbund, eine Art interreligiöse Arbeitsgemeinschaft, welche der Verständigung der Religionen dienen sollte. Aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit, auf seiner ersten Reise in den Nahen Osten infizierte er sich in Ägypten mit Malaria, ließ er sich 1929 von seiner Marburger Professur emeritieren und widmete sich fortan seinen religionsvergleichenden Forschungen. Erträge dieser Studien haben sich u. a. in den Schriften West-östliche Mystik. Vergleich und Unterscheidung zur Wesensdeutung (1926) und Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum. Vergleich und Unterscheidung (1930). Am 6. März 1937 starb Rudolf Otto in Marburg.

Als Rudolf Otto im Jahre 1917 seine Schrift Das Heilige vorlegte, hatte er sich dessen begriffliche Grundlagen bereits erarbeitet. Vor dem Hintergrund der um 1900 zunehmend deutlich werdenden Krise der Moderne versteht der Religionsdiagnostiker das Heilige als Deutungskategorie, die so nur auf dem Gebiet der Religion vorkommt. Das Heilige zeichnet sich durch eine Kontrastharmonie aus. Die religiöse Erfahrung ist durch eine Paradoxie charakterisiert. Der Mensch erfährt das Göttliche als eine Vernichtung seiner selbst und darin als das Errettende.

Alle Religion hebt mit der Erfahrung des Mysterium tremendum et fascinosum an. Rationale und irrationale Elemente sind in ihr zu einer komplexen Einheit verbunden. An vielen Beispielen aus der Religionsgeschichte weiß Otto seine Grundthese zu belegen. Geradezu paradigmatisch ist ihm die Berufungsvision des alttestamentlichen Propheten Jesaja: "Wehe mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne in einem Volk von unreinen Lippen"(Jes 6,5). Gott, so Ottos berühmte Formulierung, die vielfach aufgegriffen wurde, ist der ganz Andere. Das richtet sich auch gegen Theologien, welche das Moment des tremendum aus dem Gottesbegriff ausklammern und diesen ganz als Liebe fassen. Ein solches Verständnis Gottes bleibt allerdings dem menschlichen Leben mit seinen Höhen und Tiefen äußerlich. Das Göttliche wird in der Religion als erhabenes Mysterium erfahren, dem beim Menschen ein, wie es der Theologe nennt, Kreaturgefühl entspricht.

Gemeint ist die religiöse Deutung des eigenen Lebens als abhängig von Gott. Vor dem Hintergrund dieser Koordinaten ergibt sich ein Bild der Religionsgeschichte als Kampf zwischen den rationalen und irrationalen Elementen in der Idee des Göttlichen. In der Verkündigung Jesu von Nazareth, dem Stifter der christlichen Religion, kommen beide Aspekte zum Ausgleich.

Klassiker der Religionsdeutung

Otto geht es um den Nachweis der Eigenständigkeit der Religion. "Religion fängt", wie es bei ihm heißt, stets "mit sich selber an". Das Heilige ist das erste Werk einer Phänomenologie der Religion. Es ordnet die vielfältigen religiösen Erscheinungen unter dem Leitgesichtspunkt der Kontrastharmonie des Heiligen. Das Buch hat zahllose Religionswissenschaftler bis hin zu Gerardus van der Leeuw und Mircea Eliade beeinflusst. Vom Fach her war Otto jedoch Systematischer Theologe. Regelmäßig hielt er an der Marburger Theologischen Fakultät Vorlesungen über die christliche Glaubenslehre. Das steht nicht im Gegensatz zu seinen Studien des religiösen Kosmos. Er ist von der Überzeugung getragen, dass vor dem Hintergrund der Moderne eine Theologie nur auf einer religionsgeschichtlichen Grundlage ausgearbeitet werden kann. Den Marburger Religionsdeuter interessiert die Bedeutung der Religion für die moderne Kultur. Die Religion in ihrer Doppelseitigkeit von tremendum et fascinosum ist ihm Grundlage und Orientierung einer aus den Fugen geratenen Zeit.

In den gegenwärtigen Theologien und den Kirchen ist viel von der Liebe Gottes und vom Wohlfühlen die Rede. Wer sich mit solchen Flachheiten nicht zufrieden gibt, der wird auch heute noch mit Gewinn Rudolf Ottos vor 100 Jahren erschienenes Meisterwerk lesen. Es ist ein Klassiker moderner Religionsdeutung.

Der Autor ist Prof. f. Systematische Theologie an der Evang.-Theol. Fakultät Wien

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