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Droht uns die Expertokratie?

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Der Wissenschaftler wird in der Regel von dem. Politiker in prin-zipiell zweifacher Weise in Anspruch genommen. Das eine Mal handelt es sich um eine wissenschaftliche Arbeit, das andere Mal um eine mißbräuchliche Anwendung der Wissenschaft. In beiden Fällen hat der Wissenschaftler beratende Wirkung, welcher sich der Träger der politischen Entscheidung grundsätzlich entziehen kann. Und wird ein Wissenschaftler Politiker, dann trifft er seine Entscheidungen eben nicht in seiner Eigenschaft als Wissenschaftler, sondern in jener als Politiker. Im ersten Fall geht es darum, daß der Wissenschaftler im Sinne der „politischen Planung“ die Entscheidungsmöglichkeiten sowie deren Auswirkungen aufzeigt. Das bedeutet für den Politiker die Transparenz über eine Fülle von Daten und erleichtert eine auf der Kenntnis der Tatsachen und Sachzusammenhänge beruhende Entscheidung. Im anderen Fall wird die Wissenschaft durch einen Experten mißbraucht, im Namen der Wissenschaft, im Dienste bestimmter politischer Ziele: Bestimmte politische Vorschläge oder Entscheidungen werden durch Argumente in der Weise gestützt, daß jene, die für die These sprechen, hervorgehoben, die anderen hingegen in den Hintergrund gedrängt oder ganz verschwiegen werden. Es liegt hier also in Wahrheit keine wissenschaftliche, sondern sozusagen eine „pseudowissenschaftliche“ Beratung vor.

Mit Hilfe der Wissenschaft ist es grundsätzlich möglich geworden,schlechte oder falsche Entscheidungen des Politikers weitgehend hintanzuhalten. Ganz ist das nie möglich, weil sich viele Elemente des Gegenstands politischer Entscheidung zumindest vorläufig einer wissenschaftlichen Beurteilung entziehen. (Vom Werturteilsproblem wird hier überdies abgesehen.) Dem Politiker wird weitgehend die (Ent-schidungs-)„Freiheit“ genommen, einen Fehler zu machen. Jedoch ist zu beachten, daß der Politiker selbstverständlich formell die Möglichkeit behält, die wissenschaftliche Beratung zu ignorieren. Wenn die Entscheidungsmöglichkeiten und deren Auswirkungen durch den Wissenschaftler aufgezeigt werden, so wird dadurch in der Regel der Spielraum der Entscheidungen des Politikers eher erweitert als eingeengt.

In Hinblick auf unsere Gesellschaftsordnung stellen sich einige schwierige Probleme, die hier nur aufgeworfen werden sollen. In der parlamentarischen Demokratie ist der Träger der politischen Entscheidung bisher wohl selten in der Lage gewesen, eine „optimale Lösung“ zu realisieren — ganz unabhängig davon, ob es überhaupt möglich war, diese im konkreten Fall zu erkennen. Denn der höchst vielschichtige „perfekte Interessenausgleich“ (das heißt der Ausgleich der vermeintlichen Gruppeninteressen), ist offensichtlich selten optimal für die Gesamtheit. Es ergibt sich somit die Frage: Ist es in unserer Demokratie statthaft, daß der Wählerwille durch ein Expertengutachten korrigiert wird? Auch wenn — was eigentlich selbstverständlich ist — das Gutachten nicht automatisch Gesetz wird, sondern von den Politikern übernommen und beschlossen wird — unter Berufung auf die Wissenschaftlichkeit und die Optimalität?

Die Gefahr des Mißbrauchs der Wissenschaft im Dienste der Politik sollte nicht überschätzt werden. Was hier abstrakt als „Politik“ und als „Wissenschaft“ bezeichnet wurde, sind in sich überaus heterogene Erscheinungen. Wenn die Politiker der einen Partei Experten einsetzen, um ihre Politik zu „begründen“, so werden das auch deren Gegner tun. Und deren gibt es wohl immer genug. Deshalb halte ich die Möglichkeit, daß sich in unserer Demokratie einmal bewußt oder unbewußt Wissenschaftler und Politiker miteinander verbünden, um etwa in wichtigen Fragen nur noch eine scheinbar logische und ausschließliche Lösung für politische Entscheidungen anzubieten, für irreal.

Es gibt eine andere, sehr konkrete Gefahr. Sie hat ihren Ursprung im geltungsmäßigen und politischen (das heißt machtmäßigen) Ehrgeiz sowie in der Habgier mancher Wissenschaftler. Um den Brotgebern aus der Politik (einer politischen oder einer Interessengruppe) zu gefallen, könnten sich jene im Mißbrauch der Wissenschaft überbieten. Dadurch würde in den Augen der Öffentlichkeit die „Wissenschaft im Dienste der Politik“ restlos diskreditiert werden.

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