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Wahrheit in der Politik

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Der Zentralbegriff der sozialen Ordnung und damit auch der Politik als dem Mittel ihrer Herstellung und Durchsetzung ist wohl der der Gerechtigkeit, der alle am politischen Prozeß Beteiligten verpflichtet. Die Wahrheit scheint demgegenüber viel eher der zentrale Wert und Begriff der Wissenschaft, der es um reine Erkenntnis geht, zu sein.

Ja, man könnte meinen, daß die Anwendung des Wahrheitsbegriffes auf die Politik, jedenfalls in der Demokratie, deshalb ge-

fährlich ist, weil die Demokratie eben nicht davon ausgeht, daß es eine feststehende Wahrheit für den politischen Bereich gibt, die nur gefunden und durchgesetzt zu werden braucht, sondern im Gegenteil annimmt, daß die QuasiWahrheit des Politischen erst im Wege der Willens- und Mehrheitsbildung ermittelt werden muß, aber auch nach der Ermittlung keinen Anspruch auf allgemeine Wahrheit und Gültigkeit erheben kann.

So richtig dies alles ist, um überspannte Erwartungen in be-zug auf das, was Politik leisten kann, abzuwehren und gerade die Demokratie nicht mit Erwartungen zu belasten, denen sie nicht genügen kann, so falsch wäre es auf der anderen Seite, den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Politik zu zerschneiden, die Politik von der Wahrheit abzukoppeln. Denn auch wenn man anerkennt, daß es in der Politik und im sozialen Leben in erster Linie um Gerechtigkeit, um die Verhältnismäßigkeit von Zuteilung und Verteilung geht, ist die Verbindung zur Wahrheit damit nicht abgerissen, sondern indirekt hergestellt.

Denn Gerechtigkeit als die soziale Grundtugend, die vor allem die Rechtsordnung inspiriert und dominiert, hat insoferne etwas und sogar sehr viel mit Wahrheit zu tun, als die Erkenntnis dessen, was gerecht ist und was dann auch angewendet und durchgesetzt werden muß, zunächst einmal die Kenntnis all dessen, was zur Konstituierung der Gerechtigkeit als Beurteilungsgrundlage herangezogen werden muß, voraussetzt.

Aus dem Postulat der Wahrheit ergeben sich weitreichende Konsequenzen, die auch für die Gerechtigkeit nicht gleichgültig sind, so das Recht der Parteien in einem Zivil- oder Strafverfahren, ausreichend gehört zu werden. Die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit ist also allen, die um die soziale Ordnung und die Rechtspflege bemüht sind, auferlegt, allerdings kollidiert diese Pflicht — worauf der große deutsche Rechtsphilosoph und Politiker der Weimarer Republik, Gustav Radbruch, in seiner Rechtsphilosophie aufmerksam gemacht hat,

mit den gleichrangigen Rechtsideen der Sicherheit und der Zweckmäßigkeit, weshalb die Rechtsordnung auch dem Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit, so durch die Institution der Rechtskraft, Grenzen setzt.

Politik soll aber auch deshalb etwas mit Wahrheit zu tun haben, weil der Politiker als das Handlungsorgan der Politik kein Lügner sein darf, wenn Politik nicht jeden ethischen Inhalt verlieren soll. Allerdings wird man gut daran tun, nicht zu strenge Postulate aufzustellen, denen die Menschen auch im privaten Leben nicht genügen und die in Politik erst recht nicht eingehalten werden können. So wäre es ein weltfremder Rigorismus, vom Politiker zu verlangen, daß er alles sagt und offen ausspricht, was er sich denkt. Wenn man sich umgekehrt damit zufrieden gibt, daß alles wahr sein soll, was er von sich gibt, verfährt man zu laxistisch, denn gerade das Verschweigen entscheidender Tatsachen kann eine besonders raffinierte Form der Lüge sein.

Auch ist zu bedenken, daß jeder Politiker einerseits das Recht auf Einseitigkeit und Subjektivität besitzt, aber auch die Verpflichtung hat, übergeordnete Gesichtspunkte des Gemeinwohls, dem alle Interessen unterzuordnen sind, wahrzunehmen und analog dazu auch gehalten ist, die Wahrheit und den größeren Zusammenhang als übergeordnete Instanzen anzuerkennen und ihnen durch sein Verhalten Tribut zu zollen.

Vor allem aber sollte der Politiker auch dann, wenn er von der Wahrheit einen selektiven Gebrauch macht oder machen muß, von einer Uberzeugung durchdrungen sein, die auch diese Auslassung rechtfertigt und in einem größeren Zusammenhang verständlich erscheinen läßt, wenigstens nachträglich für ein breiteres Publikum und auch im Zeitpunkt der Aussage bzw. der Handlung für ihn selbst.

Die Pflicht, seinem Gewissen zu folgen und sein Gewissen an Normen zu orientieren, die die Menschen ganz allgemein trifft, macht auch vor dem Politiker nicht halt, wenn er auch einen größeren Ermessensspielraum hat als der Privatmann, geht es doch im Politischen in der Regel um mehr als im sonstigen Leben und ist die Sphäre des Politischen durch einen höheren Grad an Komplexität charakterisiert.

Wahrheit und Politik sind also Größen, die nie zur Deckung gelangen können, aber auch nicht bloß koexistieren dürfen, sondern einander immer wieder berühren und herausfordern müssen, um in der Konfrontation mit der anderen Sphäre das eigene Wesen zu offenbaren und so zu demonstrieren, daß alle menschlichen Sphären auf letzte Werte hingeordnet sind.

Der Autor ist Professor für Sozialphilosophie an der Universität Wien.

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