Philosophisches Denken auf dem Wege von der Weltreligion zu einer Religion für die Welt
Die zentralen Fragen der christlichen Tradition philosophisch neu zu durchdenken und dadurch die Philosophie aus einer naturwissenschaftlich geprägten Verengung zu befreien, ist in den letzten Jahren zu einem zentralen Anliegen des Grazer Philosophen Peter Strasser geworden. In den aphoristischen Notaten des "Journals der letzten Dinge" (1998) und der systematischen Abhandlung "Der Weg nach draußen. Skeptisches, metaphysisches und religiöses Denken" (2000) ging es jeweils darum, metaphysische und religiöse Fragen nicht der Beliebigkeit und dem Obskurantismus oder einer verordneten Gläubigkeit zu überlassen. Strassers Position, die sich gleichermaßen gegen eine rationalistische Philosophie wie gegen irrationale Religiosität richtet, ist weit über den gelehrten Fachdisput hinaus von Bedeutung.
Eben hat Peter Strasser einen neuen Wurf vorgelegt und schon im Prolog prägnant Position bezogen: Er hält den Satz "Gott ist" für "die tiefste Herausforderung des menschlichen Denkens". Strasser stellt sich ihr vor dem Hintergrund der Gewissheit, "dass es kein Leben nach dem Tode gibt, zumindest keines, das es wert wäre, gelebt zu werden". Das wurde dem Autor aus den Einsichten über den unlösbaren Zusammenhang zwischen Körper und Geist klar, und die Erschütterung darüber ist in seinen Sätzen noch präsent. Es bleibt also nur, Gott in der Welt zu erkennen; die Zugänge sind für Strasser das Ethische und das Ästhetische: "In den guten und schönen Werken individuiert sich das Außerzeitliche, Göttliche, und darin liegt schon der ganze menschenmögliche Trost."
Wie der Buchtitel "Der Gott aller Menschen" deutlich ausdrückt, geht es Strasser um einen religiösen Universalismus. Das bedeutet, "dass eine Religion keinen begründeten Anspruch auf universelle Geltung erheben kann, solange es nicht gute Gründe für alle Menschen gibt, an den Lehren dieser Religion teilzuhaben". Von den ersten Begründungsversuchen des Urchristentums bis zur Rationalität der Moderne schlägt Strasser einen Bogen und entwirft Konturen einer Religion, die universal einsichtig ist. Ob freilich aus der Verschiedenheit der existierenden Kulte eine transkonfessionelle Religiosität entstehen kann, und welche Metamorphosen das religiöse Empfinden durchmachen wird, darüber lassen sich nur mögliche Szenarien entwerfen (ziemlich groteske mit eingeschlossen).
Viel Bedenkenswertes findet sich darunter, etwa wenn Strasser dazu auffordert, den mystischen Augenblicken im eigenen Leben nachzugehen, aber darauf hinweist, dass sie uns nur dann dauerhaft bereichern, "wenn unser Leben selbst eine kognitiv und moralisch handfeste Struktur hat". In der Tradition der "natürlichen Theologie" geht Strasser von der Existenz der Welt aus, und davon, dass sie nicht aus nichts entstehen konnte und sich nicht selbst tragen kann. Die Gottesidee ist für ihn notwendig, um überhaupt über die Welt nachdenken zu können: "Man kann über Sein und Zeit nicht nachdenken und dabei Gott aus dem Spiel lassen."
Peter Strasser argumentiert systematisch, aber immer anhand konkreter Beispiele. Neben philosophischen Autoren (unter anderem sehr interessanter Interpretationen Nietzsches) kommt die physikalische Chaostheorie ebenso zur Sprache wie zentrale literarische Texte (Peter Handke und Paul Austin). Eingelagert in die systematische Argumentation finden sich immer wieder Passagen von besonderer Intensität und Prägnanz, etwa wenn es um die Widersprüche einer Vorstellung von Gott als Person geht oder um das Verständnis des Christentums als kulturelles Phänomen. Dazu müsse man "begreifen, wie es sich im Kontext der Kultur, deren Quelle und Ärgernis es ist, selbst immer wieder reinterpretiert".
Natürlich gelingt ein so groß angelegter Entwurf nicht ohne Schwachstellen. Einmal abgesehen von der Wiederholung etlicher Textpassagen und Zitate, die man bereits aus anderen Büchern des Autors kennt, ist das Buch nicht ganz aus einem Guss: Exkurse über Lieblingsthemen verwischen gelegentlich die Systematik, argumentativ untermauerte Passagen wechseln mit aphoristisch behauptenden - was allerdings gerade den Lesegenuss erhöht. Ärgerlich ist hingegen die oberflächliche Polemik gegen einen undifferenziert dargestellten Agnostizismus, der aus "metaphysischer Farbenblindheit" eine "Apologie des Nichtwissens" betreibe. Hier hätte man zumindest eine Auseinandersetzung mit dem Konzept von Agnostizismus und Aporetik erwarten dürfen, mit dem der Bonner Philosoph Heinz Robert Schlette seit Jahrzehnten die Grenze zieht zwischen dem, was man wissen kann, und jenen philosophischen Fragen, die zwar unabweisbar sind, die sich aber nicht mit gesichertem Wissen beantworten lassen.
Die Bibel wird öfters zitiert, aber ihre Interpretation ist manchmal etwas hausbacken. Das gefährliche Klischee vom neutestamentlichen Gott der Liebe und dem eifernden Gott des Alten Testamentes geistert auch wieder einmal herum. Vor allem aber erhebt sich eine zentrale Frage: Muss man nicht auch andere religiöse Denktraditionen als das Christentum mit einbeziehen, wenn man über religiösen Universalismus spricht?
Peter Strasser zu lesen ist immer anregend. Er fordert heraus zu Debatten und Disputen über religionsphilosophische Fragen, die für jeden Menschen und für sein Weltverständnis von zentraler Bedeutung sind und die zwischen postmoderner Gleichgültigkeit und den Restbeständen etablierter Gläubigkeit allzu oft auf der Strecke bleiben. Er durchdenkt die christliche Tradition und nimmt sie philosophisch ernst, ohne sich vorgegebenen Glaubensstandpunkten unterzuordnen. Nicht nur in Österreich gibt es wenige Ansätze, die auf dem Niveau Peter Strassers den Graben zwischen Kultur und Religion so öffentlichkeitswirksam und verständlich überbrücken.
Mit seinem neuen Buch startet die "Bibliothek der Unruhe und des Bewahrens" im Styria Verlag, die die Relevanz religiöser Fragen weit über den Binnenbereich von Religion hinaus sichtbar machen wird. Auf dieses Unternehmen darf man gespannt sein.
DER GOTT ALLER MENSCHEN
Eine philosophische Grenzüberschreitung von Peter Strasser. Bibliothek der Unruhe und des Bewahrens, Band 1
Styria Verlag, Graz 2002
210 Seiten, geb., e 17,40
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