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Mittelstand und Zweiklassengesellschaft

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Die hierarchische Gliederung der Gesellschaft ist nicht sosehr das Ergebnis menschlicher Organisation, sondern vorherbestimmt durch die Natur des Menschen, die stets nach Abhebung und Sonderung verlangt. Da diese Abhebung aber von oben nach unten als „Distanzierung“ erfolgt, wird auch die Form der vertikalen Gesellschaftsgliederung von oben her festgelegt.

Noch im Mittelalter war die gesellschaftliche Funktion das wesentliche Gliederungsprinzip gewesen. Mit der Auflockerung der aus einer Idee geformten mittelalterlichen, noch von außerökonomischen Flemen-ten zusammengehaltenen Gesellschaft und der fortschreitenden Industrialisierung ging ein Bedeutungswandel einher, der die Wirtschaft aus ihrer dienenden Stellung über die Idee des „Reichtums“ als Macht und Zeidien der Auserwählung in einem „heiligen Hunger nach Gold“ in das Zentrum mensdilichen Strebens stellte. Nun waren es insbesondere ökonomische Prinzipien, das Interesse als Idee vergeistigt, welche den vertikalen Bau der Gesellschaft schufen. Das Bewußtwerden der Trennung von Eigentum und Arbeit im Kapitalismus schuf jene Kontraste, die an den beiden Enden des jetzt ökonomisch (fast geldwertmäßig) bestimmten gesellschaftlichen Stucenbaues als die Gruppen der „Besitzer“ und der „Nurarbeiter“ erschienen.

Die Gesellschaft des Kapitalismus war aber nicht mehr bloß ein Übereinander von Stufen, sondern ein Gegeneinander von Interessengruppen, deren jede in ihrer Existenz von der anderen gefährdet schien.

Die wachsende Konzentration des Kapitals ließ die zwischen den beiden gekennzeichneten Gruppen noch beflndlidien Übergangsformen zur Bedeutungslos'gkeit absinken. Man mag zum ökonomischen Marxismus stehen wie immer, die Tatsache, daß im englischen Gründerkapitalismus des beginnenden 19. Jahrhunderts die Gesellsdiaft sich (selbstverständlich stark vereinfacht) nur mehr in zwei Gruppen, wir können sie ruhig, ohne uns etwas zu vergeben, Klassen nennen, darstellte, ist unleugbar.

Die so in zwei große Interessengruppen aufgespaltene Gesellschaft einer bestimmten Epoche der englischen Wirtschaft bildete aber das Betrachtungsfeld von Karl Marx und veranlaßte ihn zur Festlegung seiner Zweiklassentheorie, die wohl nur für den Raum Geltung hat, in dem bewußt Interessenkämpfe ausgetragen werden, den städtisch-industriellen, nidit aber für den bäuerlichen Bereich. Der Bauer ist klassenlos, ein Stück Natur.

Wiewohl die Natur auch in ihren besten Elementen nach einer hierarchisch geformten Abhebung verlangt, ist die Tatsache der Zweiklassengesellschaft ein wider die Natur gerichteter Zustand, da sich in ihr die Zufälligkeit von Geldbesitz und Eigentumstitel als Wertmaßstab demonstriert.

Je mehr sich der Kapitalismus aus einem inneren Gesetz der Entwicklung entpersönlichte, desto stärker lockerte sich das Gegensätzliche der zwei Klassen durch den Bedeutungsanstieg der zwischengeschalteten Gruppen, die sich im Prozeß des Spätkapitalismus zum sogenannten „Mittelstand“, zu einer dritten „Klasse“, zusammenschlössen. War das Merkmal der beiden Urklassen ihre Stellung zum Eigentum an Produktionsmitteln gewesen, so wird die Mittelklasse vornehmlich wieder durch ihre Funktion zu einer Einheit.'

Beschleunigt durch die Entgüterung der beiden Weltkriege wird der Mittelstand stärker aus einem Provisorium zu einem Element der Gesellschaft mit festen Bestimmungsmerkmalen.

Drei Faktoren beschleunigen die Herausbildung der drittel Klasse: erstens der wachsende Staatskapitalismus, zweitens das Vordringen des anonymen Kapitals und drittens die fortschreitende Jntellektualisierung des Arbeitsprozesses.

Der Staatskapitalismus, so weit er sich kommerzialisierte Betriebe angeeignet hat, kann, wenn er bestehen will, verwaltüngst'ichnisdi kaum jene Methoden entbehren, die den Privatkapitalismus kennzeichnen. Die Staatsbetriebe müssen ebenfalls einer betriebswirtschaftlichen Gesetzlichkeit folgen. Daher wächst die Bedeutung jener Gruppen von Staatsbeamten, die mit weitgehender Verantwortlichkeit ausgestattet, gleich wie Unternehmer die Betriebe leiten und den Arbeitern gegenüber als solche aufzutreten haben. Diese Direktoren, Betriebsleiter usw. bilden eine Sch'chte von Ver-richtun ;;strägern, die, wenn auch Nichteigentümer, doch Besitz repräsentieren. Von der alten Bourgeoisie heben sie sich dadurch ab, daß ihre Stellung eine Folge ihrer Funktion ist und nicht Ausdruck einer Güterwert-summe.

Das erst einigermaßen nach dem zweiten Weltkrieg zu einem — vielleicht scheinbaren — Stillstand gekommene Vordringen des anonymen Kapitals in die Sphäre selbstverantwortlichen „wagenden“ Unternehmertums (Umwandlung von offenen Handelsgesellschaften in Aktiengesellschaften und ähnliches) hat beispielsweise in den Vorstandsmitgliedern der Aktiengesellschaften und den Geschäftsführern der Gesellschaften mit beschränkter Haftung eine Gruppe von Funktionären geschaffen, die keiner der beiden Urklassen zugeordnet werden können, ohne das Bestimmungs-prinzip der Zweiklassengesellschaft zu verletzen. So ist etwa der Geschäftsführer der Gesellschaft mit beschränkter Haftung kein Angestelker im Sinne des Angestllten-gesetzes, wiewohi er durdiaus kein Gesellschafter sein muß. In seiner Funktion disponiert er, betriebswirtsdiaftlich' gesehen, selbstverantwortlich über Kapital, das sich in seiner Äußerung als Vermögen von seinem Eigentümer weitgehend abgelöst hat und diesem nur mehr geldmäßig zusteht und nur bei einem Verkauf des Anteiles oder bei der Liquidation des Unternehmens unmittelbar zugänglich ist.

Je mehr Geldwert und Eigentumstitel sich vom Betriebskapital absetzen, desto weniger handelt ein verantwortlicher Repräsentant anonymen Kapitals kraft persönlicher Vollmacht, desto ungeklärter wird aber auch der Standort dieses kapitallosen Unternehmens in der Zweiklassengesellschaft.

Die Intellektualisierung des Arbeitsprozesses als Folge der fortschreitenden Mechanisierung verbeamtet die Arbeit und führt viele Arbeiter der Gruppe der Intellektuellen zu. Diese konstituieren sich nich* aus ihrer Stellung zu Eigentum und Arbeit, sondern wieder als Folge ihrer Funktion sowohl gegen oben wie gegen unten aas „Klasse“, ails besitzlose Bourgeoisie, um damit zu beweisen, daß die Klasse keine ökonomische, sondern eine soziologische Kategorie darstelle.

Neben diesen so gekennzeichneten Gruppen ist die Bedeutung der „alten“ Gruppen des selbständigen Mittelstandes (Pesch) derzeit eine geringe, ja, man kann vermuten, daß dieser in seinen unteren, verproletarisierten Schichten soziologisch weitgehend in Richtung auf die Nurarbeiter abgedrängt wurde.

So wird es immer deutlicher, daß der Mittelstand diese Stellung zwischen den Fronten hat. Gesellschaftlich und dem tatsächlichen Einfluß nach ist er durchaus den Besitzenden, dem „Bürgertum“, nahe, gemessen am Geldwert ist er dagegen meist weitgehend verarmt bis verelendet, jedenfalls nicht oder nur in geringfügigem Umfang Eigentümer von Produktionsmitteln, wenn er auch durch Konvention und Mode gezwungen ist, den tatsächlichen Zustand in seinem äußeren Gehaben (Kleidung, Wohnung) zu verbergen. Dies oft auf Kosten der Deckung primitivster Bedürfnisse.

Aus seiner gesellschaftlichen Zugehörig-keitssraltung heraus bildet der Mittelstand eine Brückenstellung, die ihm eine Machtstellung einräumt, die weit über seine Kapital- und zahlenmäßige Stärke hinausgeht. Hendryk de Man, der belgische Sozialist, bemerkt daher nicht mit Unrecht, daß die Intelligenzler bereits zur herrschenden Gruppe im Staat geworden sind, wenn sie ihre Herrsdiaft auch in fremdem Sold ausüben.

Jedenfalls ist die Tatsache des Bestehens eines Mittelstandes — mögen auch seine Grenzen „im Nebel verschwinden“, wie Sombirt sagt — mit ein Bewe.s dafür, daß das Gegen- und Übereinander der Zweiklassengesellschaft eine zu einfache Darstellung bildet, um die Gliederung der Gegenwartsgesellschaft richtig zu kennzeichnen.

Wenn es je eine Zweikl.i~sengesellschaft gegeben hat, so ist sie heute in Auflösung.

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