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Die Überentwickelten

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„Wenn ein Heim größer wird als eine Burg, hört es auf, ein Heim zu sein.“

In einer visionären Schau des „absterbenden“ Kapitalismus schildert uns Karl Marx den Selbstmord eines Wirtschaftssystems. In einer selbstvollzogenen Ansammlung von Kapital in den Händen weniger (Kapitalakkumulation) und als Folge einer unangemessenen Kapitalkonzentration erweisen sich die Unternehmungen im Kapitalismus als sozialisierungsreif; sie bieten sich der „Expropriation“ durch die einst „Expropriierten“ an.

Der Kapitalismus wird, wenn wir der Prognose des Marxismus Glauben schenken wollen, an Größe, an einer Überdimensionierung seiner betrieblichen Kapazitäten, zugrunde gehen, auch deshalb, weil er nur aus dem Dünger des durch „Ausbeutung“ abgestorbenen Proletariates zu leben wußte, jenes Proletariates, das als Nachfragemasse eben die Produkte der Kapitalisten und die Markthoffnungen der Kapitalisten hätte erfüllen können.

Das Größenwachstum einzelner Betriebe, wenn nicht ganzer Produktionszweige (Öl), ist aber nicht allein das Ergebnis vorbedachter unternehmerischer Entscheidungen. Marx mutete dem Kapitalisten mehr Eigenmacht zu, als ihm die Autonomie der technischwirtschaftlichen Entwicklung überlassen konnte. Vielfach zeigt sich im Größenwachstum von Betrieben und ganzen Volkswirtschaften nur der vordergründige Niederschlag von Entwicklungen, die sich gleichsam natürlich vollziehen, ohne einzelmenschliches Zutun.

Nun ist unsere Zeit fasziniert von der Größe, sie sei nun Ausdruck politischer oder wirtschaftsorganischer Verflechtung oder der Angst vor der Größe der anderen. Die Erwartung sozialen und wirtschaftlichen Fortschrittes ist eng mit der Hoffnung auf Expansion verbunden, von der alles Heil erwartet wird. Die Frage, ob auch die einzelmenschliche Freiheit — wie auch die Freiheit eines Volkes —, die doch nur eine von Individuen zu vollziehende Chance ist, ein dem einzelnen vorgegebener Raum willkürlicher Entscheidung, durch die Expansion gesichert erscheint, wird ausgeklammert. Bewußt übergangen, um ja nicht zu erkennen, daß die Fixierung des Denkens auf die Größe eine Ideologie ist, ein falsches Bewußtsein.

Die konventionelle Annahme, daß Größe eines Staates allein, daß Machtakkumulation bereits Fortschritt bedeutet, wird nun schon vielfach bestritten. Nicht von Politikern, es sei denn, von solchen aus den traditionell-kleinen Ländern wie Schweden und der Schweiz, die den Vorteil der Beschränkung kennen und ihn in einem außerordentlich hohen Sozialprodukt ihres Landes bewiesen sehen. „Nur Schwerstfahrzeuge, Sputniks, Wasserstoffbomben oder die Langstreckenmärsche der Barbara Moor dürften größere Gebilde erfordern, als sie kleineren Nationen zur Verfügung stehen.“ Auch das „deutsche Wirtschaftswunder“ ist kaum ein Argument, das etwa für die Kooperation der sechs zu sprechen vermöchte, war doch der Aufstieg der deutschen Wirtschaft bereits lange vor dem Abschluß der römischen Verträge sichtbar und die Folge der Demontagen (Zwang zur völligen Modernisierung der Wirtschaft) sowie des Verbotes der Remilitarisierung gewesen.

Vor allem sind es vorläufig Wissenschaftler, die vor der „Gefahr der Größe“ warnen und meinen, es sei nun Zeit, zu erkennen, daß es neben den „Unterentwickelten“ auch „Überentwickelte“ gebe. Beiden ist ein Mangel gemeinsam: die optimale Größe der jeweiligen Gesellschaft.

Die Thesen, die von Leopold Kohr, einem in Portoriko lehrenden Salzburger, vertreten werden, wurden erstmals auf der Tagung eines vornehmen Gremiums von Wissenschaftlern, der „International Economic Association“, diskutiert. Der Gedanke Kohrs, das Größe Mangel sein

Leopold Kohr. Die Überentwickelten oder die Gefahr der Größe. Econ-Verlag, Düsseldorf-Wien, 1962.

kann, ist ketzerisch und widerspricht scheinbar der vernünftigen Überlegung, wenn nicht der Erfahrung. Von einer Gefahr der Größe zu sprechen scheint „absurd“ in einer Zeit, in der gerade das Bürgertum daran ist, die Unternehmungen der Privatwirtschaft über Kartellisierung und Konzernie-rung sozialisierungsreif zu „integrieren“ und Marxsche Prognosen wahrzumachen.

Kohr lehnt freilich nicht das Wachstum der Betriebe und der Volkswirtschaften an sich ab. Die Bedenken richten sich gegen ein „soziales Riesenwachstum“, dagegen, daß eine historische Gesellschaft größer wird als es ihrer Natur entspricht, während anderseits im Reich des Organischen die Natur jedes Größenwachstum beendet, sobald eine Größe erreicht ist, vermöge der ein Gebilde seine arteigenen Funktionen erfüllen kann.

Wie in der Natur, gibt es auch im Wachsen einer Gesellschaft eine „optimale Größe“. Wird diese Größe überschritten, entstehen Schwierigkeiten besonderer Art, und sei es auch nur in der Weise, daß „ ... alle riesen-wüchsigen Mammutländer zwangsläufig sozialistisch werden, da Kapitalismus nicht mehr möglich ist, wenn die soziale Größe ein Übermaß erreicht hat“. Dieser Tatbestand wird vor allem von jenen geflissentlich übersehen, die an eine freie Wirtschaft als die beste aller Wirtschafts- (und Markt-) formen glauben, während sie groteskerweise eben diese freie Wirtschaft mittels des Instrumentarismus der Monopole verwirklichen wollen.

Im Gegenteil 1 Es sind eher die EFTA-Sozialisten, die, aus welchen Gründen immer, die richtigen sozialen Proportionen befürworten, und nicht die EFTA-Bürgerlichen, die nicht zu bedenken scheinen, daß es gerade die freimachende Wirkung der staatlichen „Schrumpfung“ war, die den ihres Kolonialbesitzes weitgehend ledigen Ländern der Gemeinschaft neuartige Chancen einer Konzentration in kleinerem Rahmen ■ bot. Selbst “ Chruschtschow hat seine Idee „Ein Reich — eine Fabrik“ zugunsten einet Dezentralisierung aufgegeben.

Hat eine Gesellschaft eine „kritische“ Größe erreicht, ist es notwendig, eine Rückführung auf eine „subkritische“ Größe vorzunehmen. Dem „physikalischen Volumen“ einer Gesellschaft, hat sie eine kritische Größe erreicht, beginnt eine solche Kraft zu entströmen, daß der einzelne tatsächlich zu einem wenig bedeutenden Teilchen herabsinkt und auch geistig

:in „Kollektivist“ wird. Auch die USA ;ind bereits auf dem Weg, „in der <ollektivistischen Verherrlichung ihrer Gesellschaft nur noch von den Sowjets abertroffen zu werden“. Wenn die JSA noch kein kollektivistisches Ge-Dilde sind, so deshalb, weil sie de-:entralistisch organisiert, weil sie :igentlich „Veruneinigte Staaten“ sind.

Wenn die Größe eines Staates unvermeidbar, aus der Natur der jeweiligen Größe, zu einer Reduktion der :inzelmenschlichen Freiheit führt, die iann nur noch ein Abstraktum ist, :ührt dies keineswegs in Kompensation iu einer Wohlfahrtssteigerung. Eine Kulturgesellschaft, die auf eine Wohl-:ahrtsgesellschaft zurückgeführt oder :u einer nur-militärischen Gesellschaft ivird, vermag auch nicht jene Wohl-:ahrt zu sichern, die eine Gesellschaft ler Freien garantiert. Der Eigenbedarf ;iner zu großen Gesellschaft, der Kol-ektivbedarf an „Machtgütern“, wächst progressiv und rascher als die Produktivität. Die Folge ist ein Steigen der \nsprüche des Fiskus. Die, Freiheit les Bürgers ist eng mit der Gestaltung ies jeweiligen Budgetwesens verbun-len, ist doch etwa auch die Magna Charta förmlich weniger ein Dokument der Freiheit, sondern ein Dokument des öffentlichen Budgetwesens gewesen.

Die „kritische Größe“

Daher die Forderungen von Kohr: Die einzelnen Gesellschaften sind von den Verantwortlichen daraufhin zu prüfen, ob sie bereits eine kritische Größe erreicht haben, die sich keineswegs in Landgröße und Bevölkerungszahl ausweist, sondern in falschen Proportionen, in einem Übermaß der Konzentration, an gesellschaftlicher Verflechtung und Häufung der politischen Macht bei wenigen, die sich stets in einer aggressiven Stimmung äußert, in einer Gigantomanie, als einem Nebenprodukt „sozialen Riesenwachstums “.

Hat eine Gesellschaft eine „kritische“ Größe erreicht, scheint es geboten, sie organisatorisch zu demontieren und in subkritische, optimal große Gesellschaften aufzugliedern, damit sie wieder ihren Mitgliedern und nicht sich selbst, ihrem Eigenapparat, also kollektivistischen Zwek-ken, dienstbar werden kann.

Nur bei Rückführung der Gesellschaften auf Größen, die dem Gemeinwohl angemessen sind, kann der Mensch sein Ego zurückgewinnen, „dessen ihn die heidnischen Mächte übermäßiger sozialer Größe zu berauben drohten“.

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