Putin beschwört die Einheit mit Belarus und der Ukraine. Zu offerieren hat er aber nur „autoritäre Stabilität“. - © APA / AFP / SPUTNIK / Alexey Nikolsky

Durch des Kremls Brille

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Im Herbst finden in Russland Duma-Wahlen statt – nach einem Kahlschlag durch die Opposition. Die Zeichen stehen auf Eskalation, sagt der Autor Anton Shekhovtsov.

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Im Herbst finden in Russland Duma-Wahlen statt – nach einem Kahlschlag durch die Opposition. Die Zeichen stehen auf Eskalation, sagt der Autor Anton Shekhovtsov.

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Hackerattacken, Landnahmen, Morde, Anschläge – die Liste an Problemzonen zwischen der EU und Russland ist lange. In einem Streitfall zumindest – einem aber viel eher transatlantischen Konfliktfeld – dürfte man sich nun entschieden haben seitens Deutschlands: Nord Stream 2 wird festiggestellt. Allerdings soll es Sanktionen geben, sobald der Kreml den Energiehandel gegen die Ukraine oder zentralasiatische Staaten instrumentalisiert. Eine einigermaßen schwammige Formulierung. Und eine, bei der man sagen könnte: Das passiert ja längst. Und auch die Betriebsgenehmigung durch die EU steht noch aus.

Dabei war es nicht der Energiehandel, den Russlands Machthaber Wladimir Putin zuletzt im Konflikt mit der Ukraine ins Rennen führte: In einem Aufsatz unter dem Titel „Historische Einheit von Russen und Ukrainern“ setzte Putin der Geschichte die weißrot-blaue Brille auf, bediente das Bild von Nationen, die in Sprache, Traditionen und demselben orthodoxen Glauben vereint und nur durch bolschewistischen, polnischen und K&K-Nationalismus getrennt worden seien. Eines aber sei nebenbei bemerkt: Der Beitrag erschien auch in ukrainischer Sprache. Und an anderer Stelle: Den Einzug des ukrainischen Olympiateams in Tokyo übertrug das russische Staatsfernsehen nicht.

„Putin argumentiert, dass Ukrainer, Belarussen und Russen ein Volk seien, eine Stammeseinheit, zugehörig zu einer größeren russischen Nation,“ so Anton Shekhovtsov über Putins Geschichtsstunde. Shekhovtsov ist Autor, hat sich intensiv mit russischer Einflussnahme in der engeren und erweiterten Nachbarschaft Russlands auseinandergesetzt. Sein Buch „Russia and the western far right“ ist eine Enzyklopädie der kremlschen Einflussnahme auf Europa von Parteienfinanzierung, ideologischem Austausch bis hin zu Desinformationskampagnen. Putin, so sagt Shekhovtsov, erkenne an, dass die Ukraine und ein ukrainisches Volk existierten. Dabei verwende er aber Bilder und Sündenböcke, die er immer wieder bedient habe. Und auch altbekannte Terminologien von Großrussen, Weißrussen und Kleinrussen.

Interessant aber ist der Zeitpunkt der Veröffentlichung: Seit Monaten kursieren in sozialen Netzwerken intensiviert Ausführungen über eine Verschwörungstheorie aus Zeiten lange vor dem Internet: die „Genstab-Legende“. Demnach sei die Ukraine vom K&K-Generalstab erfunden worden, um das russische Imperium zu schwächen.

Dabei, so sagt Shekhovtsov, stehe eine historische Nähe zwischen der Ukrane und Russland ohnehin außer Frage – eine solche gebe es aber eben gleichermaßen auch zu Polen sowie Gebieten der einstigen österreichisch-ungarischen Monarchie. Ziel der Aussagen Putins sei es, der russischen Deutung über die ukrainische Geschichte Oberwasser zu verschaffen und die Ukraine im eigenen Einflussbereich zu behalten. Denn für Putin sei Russland nach wie vor eines: ein Imperium.

Risiko Ukraine

Eine Nation, so sagt Shekhovtsov, sei immer ein konstruiertes Gebilde. „Wir benennen was auch immer wir wollen eine Nation und bauen einen Staat darum herum“, sagt er. Der ukrainische Staat aber, der birgt für Russland zunehmend Risiken: die Annäherung an den Westen durchaus basierend auf der Geschichte (die Königs- und Fürstentümer im Westen des Landes waren über Jahrhunderte näher an Polen oder der K&K-Monarchie als an Russland, Kosaken-Verbände in der Zentral- und Ostukraine wiederum paktierten sowohl mit Polen als auch mit Russland, um einen eigenen Staat aufzubauen), wenn auch zäh verlaufende, aber so doch politische Reformen; im Vergleich zu Russland große politische Freiheiten – all das sei gefährlich für Putin. Die historische Karte in diesem Konflikt zwischen Kyiv und Moskau, diese jetzige Argumentation Putins, sei nicht neu. Dabei gehe es aber auch nicht um die Vergangenheit – sondern um die Gegenwart oder vielleicht auch bevorstehende Aktionen.

Und eines hätten Putin und sein Gefolge bezüglich der Ukraine verstanden: Russland hat die Krim zu einem sehr hohen Preis annektiert. Denn den Rest der Ukraine hat Russland mehrheitlich verloren. Und so gesehen handele es sich bei dem bedienten Narrativ des Brudervolkes durchaus auch um einen Versuch, Russland wohlgesonnene Kräfte in der Ukraine bei der Stange zu halten und ihnen argumentative Munition zu liefern. Denn all das sei Teil eines Informationskrieges.

Da schrieb Putin etwa: Er sei davon überzeugt, „dass eine echte Souveränität der Ukraine nur in einer Partnerschaft mit Russland möglich“ sei. Millionen Russen und Ukrainer seien familiär miteinander verbunden. Und er appelliert: „Zusammen waren und sind wir immer stärker und erfolgreicher gewesen.“ Bei all dem aber, so sagt Shekhovtsov, habe Russland politisch nichts zu offerieren außer „autoritäre Stabilität“. Das allerdings ist etwas mit Strahlkraft weit über die engste Nachbarschaft hinaus – bis Ungarn, bis nach Slowenien, ja bis Polen, wo die regierende PiS zwar offen anti-russisch agiere, sich aber kremlscher Methoden bediene. Und gewissermaßen strahle das auch bis nach Österreich.

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