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„Kein lästiger Ballast von gestern“

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Diese Frage hat für die österreichische Volkspartei nicht die gleich schwerwiegende Bedeutung wie für die anderen Christdemokratischen Parteien. Zwar zählt sich die ÖVP sehr wohl zu dieser Gruppe, sie versteht sich jedoch vor allem als eine soziale Integrationsgruppe und läßt das Element des Christlichen erst in zweiter Linie rangieren. Dennoch hat diese Frage auch für sie großes Gewicht und wird fortlaufend erörtert.

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Diese Frage hat für die österreichische Volkspartei nicht die gleich schwerwiegende Bedeutung wie für die anderen Christdemokratischen Parteien. Zwar zählt sich die ÖVP sehr wohl zu dieser Gruppe, sie versteht sich jedoch vor allem als eine soziale Integrationsgruppe und läßt das Element des Christlichen erst in zweiter Linie rangieren. Dennoch hat diese Frage auch für sie großes Gewicht und wird fortlaufend erörtert.

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Dabei zeigt es sich aber, daß eben die Frage, wie christlich heute die christlichen Parteien sind, derzeit nicht klar und zweifelsfrei beantwortet werden kann. Nicht nur ist das Beziehungsgefüge zwischen der Religion einerseits und der Politik anderseits problematisch geworden und befindet sich in fortlaufender Wandlung, auch die Kirchen selbst machen derzeit eine Krise durch und ringen um ein neues Verhältnis zur Welt; natürlich haiben auch die politischen Parteien ihr traditionelles Selbstverständnis verloren und bemühen sich nun um eine Neuformulierung ihrer geistigen oder ideologischen Basis.

An dem Beziehungsverhältnis zwischen Religion und Politik ist alles in Bewegung geraten; eine exakte und haltbare Aussage hierüber kann also derzeit nicht erwartet werden. Immerhin muß es, wenn beide Seiten ihr Wesen beibehalten und ihre Identität nicht aufgeben wollen — was anzunehmen ist —, möglich sein, wenigstens einige sehr allgemeine Aussagen grundsätzlicher Art zu formulieren. Hiebei läßt sich nun ein formaler und ein inhaltlicher Aspekt unterscheiden:

Was zunächst den formalen Aspekt betrifft, besteht zwischen den christdemokratischen Parteien einerseits und den sozialistischen sowie liberalen andererseits insoferne ein deutlicher Unterschied, als erstere die Religiosität, die religiösen Gefühle der Menschen als ein politisch relevantes Phänomen anerkennen und positiv bewerten. Die Religion, die auch heute noch in sehr vielen Menschen lebendig ist — wenn auch nicht immer in einer klar bewußten oder konfessionell fixierten Form —, bildet nun einmal den Wesenskern von deren Moralität und bestimmt damit in hohem Maße deren Handeln. Auch ist die Religion — und dies gilt vor allem für den für das Abendland traditionellen christlichen Glauben — ein wesentlicher Grund der menschlichen Brüderlichkeit, ist also ein Faktor der Gemeinschafts-bildunig und damit eine gesellschaftliche Tatsache von eminenter Bedeutung.

Während sich aber die sozialistischen und die liberalen Parteien diesen Tatsachen gegenüber eher neutral geben, stehen die christ-demokrati-schen hiezu im wesentlichen positiv. Nicht daß sie das Bekenntnis zu einer Kirche oder einer Glaubenslehre forderten, anerkennen sie den politischen Wert der durch die Religion geschaffenen Wirklichkeiten und berücksichtigen diese in ihren politischen Programmen und Aktionen.

Wieweit nun Inhalte der christlichen Lehre bestimmend für die Politik der christ-demokratischen Parteien sind, läßt sich heute nur in sehr groben Umrissen andeuten. Eine besondere Schwierigkeit Yerursacnt hiebei jener auch in den Kirchen um sich greifende modische „Linksdrall“, der das Bild verzeichnet und einen Irrweg darstellt, dessen Unsinnigkeit sich noch erweisen wird. Trotz solcher Schwierigkeiten läßt sich jedoch zeigen, daß die zwei wichtigsten Grundpositionen der christ-demokratischen Parteien, nämlich der „Personalismus“ und die „Soziale Integration“, eindeutig auf christlichen Grundsätzen und Traditionen beruhen und nach wie vor von dorther ihre haltbarste Begründung erhalten.

Nach den Erfahrungen, die wir in Österreich gemacht haben, schätzt der durchschnittliche Staatsbürger und Wähler an der ÖVP vor allem deren Fähigkeit, die divergierenden Gruppeninteressen einigermaßen zu harmonisieren und in einem dynamischen Gleichgewicht zu halten; ferner das ziemlich erfolgreiche Bemühen, soziale Konflikte auszugleichen, den sozialen Frieden und die „Soziale Partnerschaft“ zu bewahren; also die „Soziale Integration“ zu verwirklichen.

Diese Fähigkeit und diese programmatische Zielsetzung gehen letztlich auf das christliche Postulat „Liebe deinen Nächsten“ und auf die Lehre zurück, daß die Menschen, als Söhne Gottes, eben Brüder sind und sich brüderlich zu verhalten haben. Der „Solidarismus“ der klassischen katholischen Sozialphilosophie meinte ja etwas ähnliches.

In diesem Programmpunkt unterscheidet sich die christliche Demokratie übrigens recht deutlich von den sozialistischen Vorstellungen, die immer noch von der dialektischen These eines „Kampfes der Gegensätze“ 'beeinflußt sind und davon ausgehen, daß grundsätzlich nur mit Hilfe der „Spaltungsenergie“ Fortschritt erzeugt werden könne. Die christliche Demokratie hingegen verficht die Auffassung, daß auch und vor allem aus der Integration buntgegliederter und relativ selbständig bleibender Teilstrukturen Neues entstehen könne, daß also die „Fusionsenergie“ die wahrhaft schöpferische Kraft sei.

Was nun den „Personalismus“ anlangt, so handelt es sich hiebei um die politische Anerkennung und Verwirklichung eines Menschenbildes, das aus christlicher Wurzel stammt. Der Begriff „Person“ und die Wertvorstellungen, die wir mit diesem Begriff verbinden, entspringen wesentlich dem christlichen Dogma von der Ebenbildlichkeit und aus der Lehre, daß der Mensch seinem Gott unmittelbar verantwortlich sei für seine Taten. Die dem Menschen hie-durch verliehene besondere Würde, sowie das Bewußtsein von dessen unmittelbarer Bindung an seinen Gott, lösen ihn aus der Verstrickung und Verfallenheit an die Natur und an die Gesellschaft heraus. Der

Christ hat sich niemals nur als Glied der Natur oder der Gesellschaft verstanden, hat daher auch nie ausschließlich danach gestrebt, in deren Harmonie wiederspruchslos einzufließen oder eingeschmolzen zu werden, sondern sah sich aus diesen herausgehoben und ihnen gegenübergestellt; er hat sich mit diesen Strukturen nie völlig identifiziert, sondern sah immer auch einen Widerspruch. Natur und Gesellschaft wurden ihm zu Gegenspielern, zu Objekten, mit denen er unentwegt ringt und die er sich Untertan zu machen versucht. Wenn er sich bemüht, die Dinge zu erkennen, so nicht hauptsächlich aus dem Grunde, um sich ihnen widerspruchslos einzuordnen, sondern um sie zu verändern. Er analysiert die Erscheinungen, erforscht ihre Baupläne und Gesetze und geht daran, die Welt nach den Vorstellungen seiner eigenen schöpferischen Phantasie umzugestalten. Nur der zur „Person“ gewordene Mensch konnte eine moderne Naturwissenschaft entwik-keln, konnte die erforschten Naturgesetze sodann mit .Hilfe technischer Methoden zur Umwandlung der Natur selbst anwenden und konnte so die industrielle Zivilisation schaffen, die heute den ganzen Erdball umspannt und das Gesicht der Gegenwart prägt.

Zwischen der Person und der von ihr geformten Umwelt besteht insoferne eine Wechselbezagenheit, als diese nun auch der Person bedarf, um klaglos zu funktionieren. Diese Welt bildet daher auch Persönlichkeit aus; sie schafft gleichsam ein Klima, das den Menschen dazu anreizt, Persönlichkeitswerte zu entfalten und hochzuhalten. Dies ist gewiß auch der Grund dafür, daß es heute Philosophien, Ideologien und gesellschaftliche Theorien gibt, die die Personalität des Menschen zu begründen und zu sichern versuchen, ohne die Rück-bezogenheit der Person an den schöpferischen Grund der Welt zu bedenken. So hat etwa der Existen-zialismus einen hohen Begriff von der menschlichen Personalität entwickelt, will aber, wenigstens von seinen prominentesten Vertretern, als eine atheistische Philosophie verstanden werden.

Und nun hat auch der Marxismus in allen seinen Spielarten begonnen, eine marxistische Anthropologie zu entwickeln, die den Menschen in seiner Individualität, in seiner Personalität zu erfassen und zu sichern sucht. Die „Person“ revoltiert plötzlich gegen ihre Verneinung durch das Kollektiv und bricht gleichsam durch das Gebäude einer ihr feindlichen Ideologie hindurch. Marx hatte den Menschen als ein „Gattungswesen“, als ein ausschließlich gesellschaftliches Wesen betrachtet, als ein Bündel sozialer Beziehungen und hat diesen dadurch zum Untergang in einer sich zum Kollektiv verwandelnden Gesellschaft verurteilt (seine Absicht war das allerdings nicht). Nun empört sich die Person gegen ihre Unterdrückung und zwingt zu einer Neuformulierung der Ideologie. Das große Problem der marxistischen Denker unserer Tage ist demnach, den Marxismus als einen „Humanismus“ zu etablieren. Dies ist freilich aus dem Dialektischen Materialismus heraus nicht möglich. So mußte auch das tschechoslowakische Experiment eines „Sozialismus miilt menschlichem Gesicht“ unter den Ketten der sowjetischen Panzer scheitern. Wie in der marxistischen Welt die Entwicklungen weiterlaufen werden, läßt sich heute gewiß noch nicht sagen. Wenn Mihajlo Mihajlov vom Herauskommen einer „personalisti-schen Revolution“ spricht, mag er so unrecht nicht haben.

Die christliche Demokratie, die seit ihren Anfängen das personalistische Menschenbild konsequent vertreten hat, ist gerade in diesem zukunftentscheidenden Programmpunkt .hochmodern“. Im übrigen wird — aller menschlichen Voraussicht nach — dieses Menschenbild in naher Zukunft an politischer Bedeutung noch gewinnen. Denn die wirtschaftlichen und die gesellschaftlichen Strukturen werden im Zuge der fortschreitenden Automation, insbesondere aber als Folge des progressiv fortschreitenden Einsatzes von Elektronenrechnern in allen Bereichen des öffentlichen und des wirtschaftlichen Lebens in einer bisher noch nicht vorstellbaren Weise an Dichte, an Komplexität und an Rationalität zunehmen. Man hat bereits das Bild einer Gesellschaft der Zukunft gezeichnet, die nur noch von einer Elite von Experten gesteuert werden kann und die so vollkommen durchorganisiert und vorausberechnet ist, daß für den einzelnen Menschen kein Freiheitsraum und keine Möglichkeit zur Entfaltung seiner schöpferischen Phantasie mehr offenbleibt. Gegen den Druck einer sich dahin entwickelnden gesellschaftlichen Struktur wird sich das menschliche Eineelindividuum in seiner Freiheit und seiner Kreativität nur dann halten können, wenn dieses Individuum eben als „Person“ verstanden und gewertet wird, und wenn dieser Wert als Höchstwert auch von der Wirtschaft und der Politik anerkannt ist. Man wird also kaum fehlgehen, wenn man voraussagt, daß die große Zeit des aus christlicher Wurzel entstammenden personalistischen Menschenbildes erst noch kommen wird. Das christliche Erbe, das die christliche Demokratie verwaltet, ein Erbgut, das freilich von Unwesentlichen Anhängseln zu befreien und in einer zeitgemäßen Terminologie zu formulieren ist und das schließlich auf die politisch und gesellschaftlich relevanten Inhalte eingegrenzt werden muß. erweist sich also als hochaktuell. Weit entfernt davon, ein.lästiger Ballast von gestern zu sein, ist es in Wahrheit die große Hoffnung für morgen.

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