Gefangen im Machtnetz

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Erasmus von Rotterdam als Orientierungshilfe gegen Versuchungen der Unfreiheit. Eine Empfehlung Ralf Dahrendorfs an Intellektuelle.

Ralf Dahrendorf, der deutsche Parade-Intellektuelle mit britischer Lord-Würde, ist einer spannenden Frage nachgegangen: Was hat zu kritischer Begleitung des Geschehens verpflichtete "öffentliche Intellektuelle" veranlasst, den Schalmeientönen des Nationalsozialismus oder des Kommunismus zu erliegen, was hat andere zu opportunistischer Anpassung veranlasst, was hat sie in innere oder äußere Emigration getrieben oder was half ihnen, den Verlockungen der Unfreiheit zu widerstehen oder ihnen gar offen Widerstand zu leisten? So etwas interessiert auch heute, "weil die Versuchungen der Unfreiheit im 20. Jahrhundert vermutlich nicht die letzten ihrer Art waren."

Sehnsucht nach Heimat

Der scharfe Denker Dahrendorf scheut keine Mühe, seine Untersuchung als streng wissenschaftliches Unternehmen zu betreiben. Bei den Opfern der NS-Ideologie (wie Heidegger) ortet er Suche nach Bindung und Führung, bei den zumindest zeitweise kommunistisch Infizierten (wie Sperber, Koestler, Lukàcs) Bindung und Hoffnung.

Bindung bedeutet bei beiden auch Sehnsucht nach verklärender Beheimatung in einer Ersatzreligion, in der ein Führer oder die Geschichte an die Stelle Gottes getreten ist. Dem standen "Unversuchbare" gegenüber: Karl Popper, Raymond Aron, Isaiah Berlin - "Liberale von besonderer Art", die von der "einen, unteilbaren und beiwortlosen Freiheit" geleitet waren.

Als die dafür erforderlichen Tugenden ("allgemeine Werte plus individuelle Mühe") nennt Dahrendorf Mut (genauer: Zivilcourage, nicht Märtyrertum), Gerechtigkeit (offene Gesellschaft, nicht Paradies auf Erden), Besonnenheit (Suche nach Wahrheit, nicht Behauptung ihres Besitzes) und Weisheit (Vernunft unter Einschluss von Kritik).

Außenseiter und Rebell

Nach dieser Vorbereitung "kann der geheimnisvolle Fremde auf die Bühne treten, der von den Anfängen dieses Buches seinen Schatten vorausgeworfen hat": Erasmus von Rotterdam, als Sohn eines Priesters Außenseiter von Anbeginn, Rebell gegen Kirchenstarrsinn, auch von Luther nicht vereinnahmbar, "Vorbote der Tugenden der Freiheit".

An seinem Beispiel macht der Autor die Eigenschaften der ihm ähnlichen "Erasmier" fest, die "die Prüfungen der Zeit bestehen", und führt neben Popper, Aron und Berlin mit gewissen Einschränkungen auch noch Hannah Arendt, Norberto Bobbio, Arthur Koestler, Manès Sperber, Stephen Spender, George Orwell und Theodor Adorno an. Ihre bisweilen ein wenig betulich wirkende unterschiedliche Bewertung lässt vor dem geistigen Auge des Lesers einen weit verzweigten Baum erstehen, in dem Fast-Erasmier, Renegaten, Idealisten, Opportunisten, Bemühte und Bekehrte hausen. Im Anhang wird die Societas Erasmiana auch noch mit ihren auswärtigen und fördernden Mitgliedern, "abgewiesenen Kandidaten" (Jean-Paul Sartre, Robert Havemann) und selbst den nicht als Mitglieder geführten Widerständlern wie Dietrich Bonhoeffer aufgezählt, denn Erasmier sind Helden des Wortes, weniger der Tat.

Gewinnbringende Lektüre

Gut, dass der gewissenhafte Menschenetikettierer Dahrendorf empfiehlt, diese Wer-ist-was-Tabelle "mit gebotener Nachsicht und Ironie zu lesen".

Die Lektüre des gesamten Buches ist auf jeden Fall ein Gewinn, spinnt der Autor doch den Bogen seiner oft bestechenden Analysen auch nach 1945 weiter. Die "Desillusionierung von 1968" ist für ihn "im Rückspiegel ein Modernitätsschub", bei dem vor allem die Autorität auf dem Prüfstand war, aber unverzeihlich wurde sie teilweise auch mit Mao motiviert, der gerade in diesem Jahr drei Millionen Tote zu verantworten hatte.

1989 feiert der Verfasser als Ende des Totalitarismus, der fast ein ganzes Jahrhundert überschattet hatte: Die "machbare liberale Bürgergesellschaft" hat sich durchgesetzt.

Ob nicht freilich der islamfundamentalistische Terrorismus 2001 eine neue Epoche der Gegenaufklärung bei Opfern (und Tätern: Folter und Freiheitsbeschneidung als vermeintliche Gegenwaffen!) eingeleitet hat, lässt Dahrendorf noch offen.

VERSUCHUNGEN DER UNFREIHEIT

Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung

Von Ralf Dahrendorf

Verlag C. H. Beck, München 2006

239 Seiten, geb., e 20,50

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