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Der Griff zur Pille

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Auch nach Medikamenten kann der Mensch süchtig werden, nicht nur nach Alkohol und Nikotin. Besonders betroffen von dieser Abhängigkeit sind Frauen, aber auch schon Kinder.

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Auch nach Medikamenten kann der Mensch süchtig werden, nicht nur nach Alkohol und Nikotin. Besonders betroffen von dieser Abhängigkeit sind Frauen, aber auch schon Kinder.

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„Medikamentenabhängigkeit und -mißbrauch sind bei den Suchtproblemen in Österreich an zweiter Stelle, gleich hinter dem Alkoholproblem", so Rudolf Mader, Vorstand des An-ton-Proksch-Instituts in Wien-Kalksburg, das eine eigene Abteilung zur Betreuung und Rehabilitation Medi-kamentenabhängigerhat. .Arzneimittelabhängige sind keine durch Kleidung oder Benehmen auffällige Personen. Sie sind ordentliche, fleißige, unauffällige Staatsbürger aller Altersgruppen und Sozialschichten", heißt es dazu in der Broschüre „Die stille Sucht", herausgegeben vom Gesundheitsministerium.

Eine „besonders gefährdete Gruppe" sind etwa die Bäuerinnen, meint Ingrid Erlacher, Referatsleiterin im Ministerium. „Vor allem bei Klein-und Mittelbetrieben. Der Mann pendelt aus, auf der Frau lastet die Verantwortung für den Hof, den Haushalt und die Kindererziehung." Für viele sind schmerzstillende Mittel scheinbar letzte Möglichkeit, mit dieser Überforderung fertig zu werden, Mittel zum „Einschlafen am Abend und Aufwachen in der Früh."

Süchtig sind vor allem Frauen

Im Anton-Proksch-Institut war die Abteilung für Medikamentenabhän-gige zunächst nur für Frauen geöffnet. „Im Gegensatz zur Alkoholabhängigkeit, wo wir 90 Prozent Männer haben, sind es im Bereich der Medikamentenprobleme 80 Prozent Frauen. Ein Drittel unserer Patientinnen hat Probleme mit Medikamenten und Alkohol, was die Rehabilitation besonders schwierig macht." (Mader). Alkoholisierte Frauen seien in der Öffentlichkeit nicht so akzeptiert wie Männer, die dann oft als „gute und lustige Gesellschafter" bezeichnet werden. Die Einnahme von Medikamenten zeigt keine äußere Wirkung und läßt sich vor der Familie leichter verbergen.

Mißbrauch und Abhängigkeit von Medikamenten kann schon in der Schule beginnen. Manche besorgte Eltern versuchen, die Schullaufbahn ihrer Kinder durch Medikamente zu unterstützten. Das beginnt bei den viel beworbenen Vitaminpräparaten und geht weiter über Aufputschmittel bis zu Medikamenten, um Nervosität und Schlafstörungen in den Griff

zu bekommen.

„Viel zu wenig wird dabei der Tagesablauf eines Schülers proble-matisiert", betont Erlacher: stundenlanges Fernsehen, auch dann, wenn die Programminhalte für Jugendliche überhaupt nicht mehr geeignet sind und es große Schwierigkeiten bei der Verarbeitung mit dem Gesehenen gibt, kann genauso schuld sein wie „übertriebenes Lernen, ohne Pause bis spät in die Nacht hinein."

In der Umfrage „Gesundheit in der Schulklassen-Gesellschaft" (1991, befragt wurden rund 3.200 Schüler und Schülerinnen aller Schultypen) geben 21 Prozent der Befragten an, innerhalb der letzten vier Wochen ein Medikament eingenommen zu haben. Gegen Husten, Schnupfen, Kopfweh, Magenschmerzen, Verstopfung, aber

auch Medikamente gegen Schlafstörungen, Nervosität und Müdigkeit (Anteil im Schnitt zwei Prozent). Dabei stellt sich natürlich die Frage nach der Ehrlichkeit der Antworten.

Je älter die Jugendlichen, desto höher der Anteil rezeptfreier Medikamente. Wem es in der Schule oder zu Hause schlecht geht, nimmt mehr Medikamente und gibt auch seinen allgemeinen Gesundheitszustand als „schlecht" an.

Entscheidend ist „das Vorbild der Eltern" (Erlacher). Wenn zu Hause leichtfertig mit „legalen Drogen wie Alkohol oder Rauchen umgegangen wird", hat das starke Konsequenzen für den Umgang der Kinder mit Suchtmitteln aller Art.

Tablettenfreudigkeit

Auf die vom Fessel-Institut in diesem Jahr in Österreich gestellte Frage „Haben sie gestern ein Medikament eingenommen?", antworten 34 Prozent der Österreicher mit „Ja", womit unser Land im internationalen Trend relativ niedrig liegt. „In den USA oder Frankreich ist der Medikamentenverbrauch fast doppelt so hoch, in Deutschland um ein Drittel höher", faßt Kurt Vymazal vom Info-Service (Fessel-Institut) die Zahlen zusammen. Der Zugang zu Medikamenten sei in Österreich durch Rezeptpflicht stark beschränkt.

Vymazal und Mader weisen aber daraufhin, daß vieles, das verschrieben wird, nicht nötig wäre. „Von gezielter, dosierter und unter Kontrolle durchgeführter Medikarnenta-tion ist oft keine Rede" (Mader). Besonders praktische Ärzte mit Hausapotheke neigen dazu, so Vymazal, mehr zu verschreiben.

Abhängige können sich so relativ leicht Rezepte verschaffen, „eingekauft wird in verschiedenen Apotheken, womit der Beratungseffekt der Apotheker wegfällt" (Erlacher). Auch wenn diverse Hausmittel und alternative Heilmethoden stark im Ansehen der Bevölkerung gestiegen sind, ortet Mader bei Herrn und Frau Österreicher „eine gewisse Tablettenfreudigkeit". Probleme wie Einsamkeit, Reizüberflutung oder „Eheprobleme lassen sich aber nicht mit Psychopharmaka lösen" (Erlacher) - alle Befragten betonen die Bedeutung der psychologischen Betreuung und Begleitung von Patienten, die viele Medikamente ersparen würden.

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